Das Konzept der 15-Minuten-Stadt hat weltweit für Aufsehen gesorgt – von Paris bis Portland – und steht für eine radikale Neuordnung des städtischen Lebens: kurze Wege, vielfältige Nutzung, starke Nachbarschaften. In diesem Interview erklärt Carlos Moreno, wie urbane Räume sozial gerecht gestaltet werden können und warum seine Vision weit mehr als nur Stadtplanung ist, nämlich ein Kulturwandel.

Die 15-Minuten-Stadt: Ein Stadtmodell, basierend auf Nachhaltigkeit und Menschlichkeit
Herr Moreno, was war der entscheidende Moment oder die entscheidende Erkenntnis, die Sie dazu gebracht hat, das Konzept der 15-Minuten-Stadt zu entwickeln? Gab es eine persönliche Erfahrung oder eine wissenschaftliche Erkenntnis, die Sie auf diesen Weg gebracht hat?
Die 15-Minuten-Stadt verbindet meinen wissenschaftlichen und meinen sensitiven Ansatz.
Ich bin ein Wissenschaftler mit IT-Hintergrund und habe mich erstmals während des „Smart Cities“-Booms in den frühen 2000er-Jahren für Städte interessiert. Während ich die Organisation von Städten studierte, als ich viele Jahre in Paris lebte und die Hauptstädte der Welt bereiste, beobachtete ich die Herausforderungen des städtischen Lebens, darunter lange Pendelwege, Verkehrsstaus und eingeschränkter Zugang zu wichtigen Dienstleistungen. Zwei Dinge wurden mir immer bewusster: die abnehmende Gesundheit und Lebensqualität der Stadtbewohner und die eskalierenden klimatischen Probleme.
Um Städte zu verstehen, müssen wir das „große Ganze“ betrachten: die kausalen Zusammenhänge zwischen städtischem Lebensstil, wirtschaftlicher Entwicklung, Verkehrsmitteln, Klimawandel und dem Unwohlsein der Bewohner … Eines steht dann fest: Technologische Hilfsmittel sind nicht das Mittel der Wahl.
Ich war überzeugt, dass wir ein Stadtmodell brauchen, das die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angeht und auf Nachhaltigkeit und Menschlichkeit basiert. Wir mussten eine langfristige, nachhaltige Planung aufstellen und die Grundwerte unserer Gesellschaft neu definieren. Dies führte 2016 zu dem Konzept der 15-Minuten-Stadt. In den vergangenen neun Jahren hat sich das Konzept fortentwickelt und wir haben es im Rahmen des Lehrstuhls Entrepreneurship Territory Innovation (ETI) an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne weiterentwickelt. Es wurde in einigen Städten wie Paris umgesetzt und ist inzwischen auch weltweit bekannt.
Wie man Stadtbewohner motiviert, ihre Gewohnheiten zu ändern
Ihr Konzept der 15-Minuten-Stadt steht nicht nur für einen infrastrukturellen, sondern auch für einen kulturellen Wandel. Wie können wir die Menschen dazu ermutigen, über Jahrzehnte gewachsene Mobilitäts- und Konsummuster zu hinterfragen und sich freiwillig neue Lebensstile anzueignen?
In der Tat ist eine Stadt nicht nur ein Ort, sondern ein Lebensraum. Es besteht eine dynamische Wechselwirkung zwischen Orten und ihren Nutzungen: Die städtische Organisation beeinflusst die Nutzungen, und die Nutzungen beeinflussen die Organisation einer Stadt. Heute erkennen wir kollektiv, dass die kohlenstoffintensiven Praktiken der Vergangenheit nicht mehr nachhaltig sind, ebenso wenig wie die städtischen Organisationen, die sie ermöglichten. Es gibt verschiedene Ansätze, um Veränderungen zu unterstützen und zu fördern. Der erste besteht darin, das Bewusstsein für die Vorteile der 15-Minuten-Stadt zu schärfen, wie zum Beispiel die Verbesserung der Gesundheit, die Verringerung der Umweltbelastung und die Stärkung der Beziehungen zur Gemeinschaft. Dies hilft, die Vorteile zu erklären und den bewussten Wunsch nach Veränderung zu wecken. Darüber hinaus können Anreize für nachhaltige Praktiken, wie zum Beispiel Subventionen für öffentliche Verkehrsmittel und Bike-Sharing-Programme, die Menschen dazu motivieren, ihre Gewohnheiten zu ändern. Außerdem wird die Einbeziehung der Bewohner in die Auswahl der Entwicklungen durch partizipative Demokratie zu einer größeren Akzeptanz führen.
Mit der 15-Minuten-Stadt Ungleichheit verringern
In vielen Städten ist zu beobachten, dass gut ausgebaute, lebenswerte Viertel zu Magneten für wohlhabendere Bevölkerungsgruppen werden, während sozial schwächere Gruppen verdrängt werden. Wie kann die 15-Minuten-Stadt sozial gerecht gestaltet werden, so dass sie nicht ungewollt zur Verschärfung von Ungleichheiten beiträgt?
Die 15-Minuten-Stadt befasst sich mit ökologischen, wirtschaftlichen und vor allem mit sozialen Fragen. Die Transformation einer Stadt in eine 15-Minuten-Stadt erfordert einen umfassenden Plan, der alle Stadtteile einbezieht, von den wohlhabendsten bis zu den ärmsten. Dies erfordert eine gezielte Planung und Politik, um Inklusion zu gewährleisten. Dazu gehört, erschwinglichen Wohnraum, einen gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen und eine gemeinschaftsorientierte Entwicklung in den Vordergrund zu stellen.
Die 15-Minuten-Stadt kann dazu beitragen, Ungleichheiten zu verringern, indem sie mehr Dienstleistungen, mehr Geschäfte und mehr soziales Leben in die benachteiligten Viertel bringt, in denen es an diesen oft am stärksten mangelt.
Wie sich das Konzept der 15-Minuten-Stadt anpassen lässt
Das Konzept der 15-Minuten-Stadt basiert auf einer europäischen Stadtstruktur mit etablierten Vierteln und einer relativ hohen Dichte. Inwieweit lässt sich dieses Modell auf Städte in anderen Teilen der Welt übertragen, etwa auf schnell wachsende Megastädte in Afrika oder Asien oder auf weitläufige Vorstädte in Nordamerika?
Die 15-Minuten-Stadt wird bereits auf der ganzen Welt umgesetzt, nicht nur in Europa. Paris ist natürlich das bekannteste Beispiel für die 15-Minuten-Stadt, aber auch andere Städte auf der ganzen Welt haben das Konzept übernommen: Busan (Südkorea), Portland (Oregon, USA), Ottawa (Ontario, Kanada) … Das Konzept ist an verschiedene städtische Kontexte anpassbar: Während die konkrete Umsetzung variieren kann, bleiben die Kernprinzipien der Nähe, der Nutzungsvielfalt und der Zugänglichkeit anwendbar. Wenn die städtische Organisation unter einer exklusiven Zonierung leidet, geht es darum, eine Politik der gemischten Nutzung umzusetzen. Wenn die Dichte nicht sehr hoch ist, muss man die Entfernung variieren, zum Beispiel auf 20 oder 30 Minuten … In Megastädten kann das Modell so zugeschnitten werden, dass autarke Stadtteile innerhalb größerer Stadtgebiete entstehen, die lange Pendelwege vermeiden und die lokalen Dienstleistungen verbessern. Dies ist die Idee hinter Vancouvers „Complete Communities“. In weitläufigen Vorstädten kann der Schwerpunkt auf der Schaffung von Mischnutzungsgebieten und der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs liegen, um die Bewohner mit wichtigen Dienstleistungen zu verbinden.
Zugehörigkeit fördern, soziale Isolation verringern
Können Sie sich eine Zukunft vorstellen, in der das Modell der 15-Minuten-Stadt zum globalen Standard für Stadtentwicklung wird? Welche langfristigen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Veränderungen erwarten Sie, wenn Ihre Vision weltweit umgesetzt wird?
Da das Modell der 15-Minuten-Stadt darauf abzielt, nachhaltigere, widerstandsfähigere und auf den Menschen ausgerichtete urbane Umgebungen zu schaffen, hoffe ich wirklich, dass sich die globale Stadtentwicklung in diese Richtung bewegen wird. Das ist eine Notwendigkeit, wenn der Planet und unsere Städte in 50 Jahren noch lebenswert sein sollen … Wenn alle Städte heute eine Wende hin zu mehr Nähe für mehr Nachhaltigkeit vollziehen, können wir auf lange Sicht mit bedeutenden Veränderungen rechnen. Auf sozialer Ebene werden die Gemeinden stärker miteinander verbunden sein, was das Gefühl der Zugehörigkeit fördert und die soziale Isolation verringert. Wirtschaftlich werden lokale Unternehmen florieren, Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen und die lokale Wirtschaft ankurbeln. Aus ökologischer Sicht wird die geringere Abhängigkeit vom Auto zu niedrigeren Kohlenstoffemissionen, besserer Luftqualität und mehr Grünflächen führen.
Kurzvita Carlos Moreno
Carlos Moreno ist ein französisch-kolumbianischer Stadtplaner und Professor, der in Paris lebt. Er ist vor allem als Pionier des Konzepts der 15-Minuten-Stadt bekannt, das ein nachhaltiges, menschenzentriertes Stadtleben fördert. Er ist der Scientific Director des Forschungslabors „Entrepreneurship Territory Innovation“ an der IAE Paris Sorbonne, Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne, und ist Mitglied der Académie des technologies.
Übersetzt aus dem Englischen, erstmals veröffentlicht in topos 131: 15-minute city
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