12.08.2015

Event

Vitale Gemeinden schaffen

Die Bundesstiftung Baukultur hat sich in diesem Jahr „aufs Land“ begeben und sich als Ausrichtungsort der ersten Baukulturwerkstatt 2015 die Stadt Kassel ausgesucht. Eine gute Wahl, zeigt doch Kassel sehr anschaulich die Bandbreite der Probleme: innerstädtisch häufig als autogerechtes, antiurbanes und damit fehlgeschlagenes Experiment des Wiederaufbaus angeprangert, während gleichzeitig die Häuslebauer ihren Traum vom freistehenden Eigenheim vor den Stadttoren ausleben. Laut dem Kasseler Stadtbaurat Christof Nolda ist es heute schwierig, qualitätsvoll „auf dem Dorf“ zu bauen. Gemeinschaftliche Verantwortung für die Baukultur ist keine geübte Praxis mehr. Die Neubaugebiete erzählen somit weniger von dörflicher Identität als von Investition in familiäres Individualinteresse.

 

Das Tagungsprogramm bot zehn Kurzvorträge von ausgewählten Best-Practice-Beispielen aus den Provinzen Deutschlands und Österreichs.

Baiersbronn im Nordschwarzwald: 15.000 Einwohner, drei Restaurants mit insgesamt acht (!) Michelin-Sternen. Jörg Finkbeiner (partnerundpartner Architekten) zeigt, wie sich dort ein gestalterisches Leitbild entwickeln lässt und hat dazu ein Forschungsprojekt beim Bundesbauministerium zur „Baukultur in ländlichen Räumen“ akquiriert – Identitätsfindung durch sorgfältige Analyse von regionalen Gestaltqualitäten.

Bewohner im Ort halten

Christian Gerlach, Architekt aus Fritzlar entwickelte für seine nordhessische Heimatstadt eine „Leerstands-Prophylaxe“. Mit akribischer Betreuung der Bewohner, durch kluge Sanierungen und Umbauten versucht er die Bewohner im Zentrum zu halten. Sein Ziel: Die Lebendigkeit der Kleinstadtzentren erhalten beziehungsweise wiedergewinnen: Durch Fördermittel angeregt, wurden in Fritzlar bisher etwa 3,8 Millionen Euro investiert.

Townhouse-Konzepte in Gotha und eine sorgfältig entwickelte Ortsmitte in Wettstetten (Architekt Sebastian Dellinger): Rathaus, Gemeindesaal und ein Pflegehaus, die sich an den räumlichen Bezügen orientieren und mit geschlämmten Ziegeln regionale Bautraditionen fortführen. Auch dies sind erfolgreiche Versuche, den sogenannten Donut-Effekt zu vermeiden, nämlich eine verödete Mitte und einen fetten Rand.

Manfred Hegger, der im nordhessischen Wolfhagen einen ehemaligen Panzerunterstand
in eine Schule mit riesigem Solardach verwandelte, misst den vielen kleinen, zunächst unscheinbaren Maßnahmen im ländlichen Raum eine große Bedeutung bei.

Partizipation ist bei allen Beispielen Bestandteil und Basis gelungener Realisierungen. Ein Wohnprojekt in Dötlingen (Landkreis Oldenburg), betreut durch Susanne Hofmann (Die Baupiloten) gehört dabei schon fast zum Mainstream. Begleitet durch ihre spielerische Prozesskultur entsteht ein differenziertes, generationsübergreifendes Minidorf aus 15 Häusern für Familien und Senioren und ein „Kümmerer-Haus“. Dass Bürgerbeteiligung noch „Luft nach oben“ hat, zeigte eindrucksvoll Roland Gruber, Architekt und Kulturmanager aus Österreich. Seine Planungsmethode setzt vor allem auf das lustbetonte, gemeinsame Entwickeln von Ideen und deren Realisierung, zum Beispiel mit Hilfe eines temporär betriebenen Büros vor Ort. Die überschaubaren Kosten, die solch ein mehrmonatiges Verfahren verursacht, sind gut angelegt, weil man alle ins Boot holt und am Ende Zeit und Konfrontation spart.

Architekturqualität bleibt dabei nicht zwangsläufig auf der Strecke. Als Beispiel kann das Konzerthaus Blaibach dienen, eine gekippte Betonkiste mit avantgardistischem Konzertsaal, gemeinsam mit Bewohnern geplant und erstellt (siehe Artikel ab Seite 34). Mit seiner Firma „Hauspaten Bayerwald“ überzeugte Peter Haimerl die Bewohner von der Hochwertigkeit ihrer Baukultur und bewahrt sie damit vor dem Abriss ihrer eigenen Geschichte. Besser kann man das Ziel der Baukulturwerkstatt nicht formulieren.

Engagierte Planer vor Ort

Es scheint, dass eher ortsansässige Planer den Stein ins Rollen bringen als Politiker. Einig sind sich alle, dass durchsetzungsstarke und mutige Persönlichkeiten nötig sind, sonst brauche man gar nicht erst anzufangen.

Eine junge Besucherin, die mit ihrer Familie einen Bauernhof in der Lüneburger Heide gekauft hat, fühlte sich „elektrisiert“ von all den guten Beispielen und will die örtlichen Bauausschussmitglieder gleich zur Exkursion verpflichten. So geht die Strategie der Bundesstiftung Baukultur auf: gute Beispiele sammeln, diskutieren, Partner vernetzen und offen über Baukultur kommunizieren. Auf nach Regensburg! Dort geht es am 9. und 10. Juli im die Themen Infrastruktur und Landschaft.

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