16.07.2025

Gesellschaft Projekt

Emotionale Raumerfahrung durch radikale Begrünung

Luftbild des Projekts „Mehr Gefühl“ von SOWATORINI Landschaft: Emotionale Raumerfahrung durch radikale Begrünung und artenreiche Vegetationsstrukturen im Hofraum. Foto: Sowatorini
Luftbild des Projekts „Mehr Gefühl“ von SOWATORINI Landschaft: Emotionale Raumerfahrung durch radikale Begrünung und artenreiche Vegetationsstrukturen im Hofraum. Foto: Sowatorini

In einer Zeit, in der Architektur und Städtebau zunehmend auf Funktionalität und Effizienz reduziert werden, setzt SOWATORINI Landschaft mit seinem Projekt „Mehr Gefühl“ ein starkes, bewusst emotionales Gegenmodell. Der Entwurf macht erlebbar, wie konsequente Begrünung Räume nicht nur atmosphärisch transformieren kann, sondern den Menschen in seiner Wahrnehmung, seinem Körpergefühl und seiner Stimmung unmittelbar beeinflusst. Zwei völlig unterschiedliche Raumatmosphären treffen aufeinander und eröffnen eine neue, vielschichtige Dimension der emotionalen Raumerfahrung.

Durch eine radikale, vielfältige Vegetationsgestaltung wird Natur hier nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als zentrales Medium des Entwurfs verstanden – und prägt das Erleben des Ortes auf unmittelbare Weise.


Zwei Atmosphären, ein Ziel: Mehr Gefühl!

Der Entwurf „Mehr Gefühl“ inszeniert bewusst das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Raumatmosphären. Oben: sonnig, luftig, offen. Unten: dicht, feucht, geheimnisvoll. Dieses räumliche Spannungsfeld ist nicht dekorativ, sondern erzählerisch. Es macht sichtbar und spürbar, wie unterschiedlich Räume auf den Menschen wirken können – und wie sehr Natur diesen Effekt nicht nur verstärken, sondern überhaupt erst ermöglichen kann.

Im Zentrum steht dabei nicht die klassische Frage nach Nutzbarkeit oder Ästhetik, sondern die unmittelbare Wirkung auf das Erleben des Körpers im Raum: Wie verändert sich unsere Wahrnehmung, wenn wir von der lichten Höhe in ein schattiges Dickicht hinabsteigen? Was macht es mit uns, wenn wir durch Pflanzen hindurchgehen, statt sie nur zu betrachten? Dieses Projekt fordert uns auf, Räume wieder mit allen Sinnen zu bewohnen.


Der obere Hof: Leichtigkeit, Duft und Transparenz

Die obere Ebene des Hofes ist architektonisch geprägt von der Tatsache, dass sie auf dem Dach eines Museumsdepots liegt. Hier herrschen trockene, karge Bedingungen, die durch eine gezielte, artenreiche Begrünung in ein Gefühl von Leichtigkeit und Weite transformiert werden. Auf 650 Quadratmetern begegnen Besucher Staudenflächen, die mit ihrem Zusammenspiel aus Farben, Düften und filigranen Strukturen nicht nur eine ästhetische Qualität, sondern eine emotionale Resonanz erzeugen.

Pflanzen wie Tautropfengras und Herbstkopfschwingel, ergänzt durch Zwiebelpflanzen, bilden ein vegetatives Gewebe, das Leichtigkeit, Bewegung und Duft vereint. Diese Fläche ist ein Gegenpol zum urbanen Alltag, ein Raum der Entschleunigung, der über das Wechselspiel von Licht und Vegetation fast poetisch das Thema der emotionalen Raumerfahrung weiterträgt.

Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Anja Schneider
Foto: Anja Schneider
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini
Foto: Sowatorini

Der untere Hof: Das Dickicht als Experimentierraum für Körper und Sinne

Radikal anders zeigt sich die untere Ebene. Hier wird die Natur nicht gezähmt, sondern inszeniert als dichtes, fast wildes Dickicht. Ein Ort, der sich nicht sofort erschließt, der sich dem schnellen Blick entzieht und erst durch körperliche Aneignung seine Wirkung entfaltet. Über barrierefreie Wege und schmale Trampelpfade führt der Raum hinein in eine dichte Vegetation aus über 850 Gehölzen, flankiert von Schattenstauden, die eine fast archaische Atmosphäre schaffen.

Diese Zone fordert heraus: zum Spazieren, zum Verweilen, zum Verirren. Die Skulptur „Pfadfinder“ dient dabei als künstlerisches Moment, das zur Interaktion provoziert. Hier wird Natur nicht museal gezeigt, sondern lebendig und widerspenstig inszeniert. Die emotionale Raumerfahrung entsteht nicht durch Betrachtung, sondern durch Bewegung, durch das Eintauchen in eine andere Welt.


Vegetation als emotionaler Resonanzkörper

Die Bepflanzung folgt keinem dekorativen Zweck, sondern ist integraler Bestandteil des Gesamtkonzepts. Sie macht den Raum zum Erlebnisraum. 10.000 Stauden, 10.000 Blumenzwiebeln, 850 Gehölze: Diese Zahlen sprechen von einer pflanzlichen Dichte, die in ihrer Vielfalt Biodiversität nicht nur fördert, sondern auch atmosphärisch auflädt.

Die Pflanzenwahl folgt dabei einer klaren Linie: Oben Trockenheitsliebende mit ästhetischer Leichtigkeit, unten robuste Gehölze, wie man sie an naturnahen Waldrändern findet – Kornelkirsche, Feldahorn, Hartriegel, Mehlbeere. Klassische Gartengehölze wie die Samthortensie durchbrechen das Bild und verweisen auf den künstlichen Charakter des Ortes. Diese Mischung von Wildem und Gestaltetem erzeugt eine Spannung, die den Raum lebendig hält.


Nachhaltigkeit trifft Sinnlichkeit

Doch das Projekt „Mehr Gefühl“ ist nicht nur ästhetisch und atmosphärisch bemerkenswert. Es erfüllt höchste Ansprüche an Nachhaltigkeit. Die Entsiegelung des unteren Hofes auf über 1.500 Quadratmetern reduziert nicht nur die Oberflächenabflüsse signifikant, sondern ermöglicht eine gesunde, dauerhafte Vegetationsentwicklung. Die Bewässerung erfolgt über eine innovative Nutzung der Dachflächen des Museums: Zisternen, Pumpen, Sonden und Nebeldüsen sorgen für eine ressourcenschonende Wasserversorgung.

Diese ökologischen Maßnahmen sind kein technischer Selbstzweck, sondern tragen unmittelbar zur atmosphärischen Wirkung bei: Verdunstungskühle, Schattenwirkung, ein Mikroklima, das spürbar angenehmer ist und die emotionale Raumerfahrung intensiviert.


Raum als emotionales Angebot

Der Entwurf versteht Raum nicht funktional, sondern als Angebot an den Menschen. Die neuen Sitzgelegenheiten auf der Rampe, die kleine Bühne vor der Vegetation, die Einladung, sich durch das Dickicht zu bewegen – all das sind räumliche Setzungen, die den Körper einbinden, die zur Interaktion auffordern und den Aufenthalt aktiv gestalten.

Es ist bemerkenswert, dass sich dieses Projekt gestalterisch wie wirtschaftlich konsequent zur Vegetation bekennt: Der Anteil der Pflanzung an den Gesamtbaukosten ist außergewöhnlich hoch. Hier wird Raum durch Natur geschaffen, nicht als Beiwerk, sondern als zentrales Medium der Gestaltung.


Mehr Gefühl – mehr Zukunft

Das Projekt „Mehr Gefühl“ zeigt eindrucksvoll, welches Potential in einer konsequent vegetationsbasierten Gestaltung für den Stadtraum liegt. Es verbindet ökologische, soziale und ästhetische Aspekte auf beispielhafte Weise und rückt dabei etwas in den Mittelpunkt, das in der gegenwärtigen Debatte um Nachhaltigkeit oft übersehen wird: die emotionale Raumerfahrung.

Wo Räume uns körperlich und sinnlich berühren, entsteht Bindung. Wo Natur nicht nur Kulisse, sondern Erlebnisraum ist, wächst ein neues Verständnis für unsere Umwelt. Und genau das ist es, was Städte heute mehr denn je brauchen: Räume, die uns fühlen lassen.

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