04.01.2017

Projekt

Schweizer Gotthardachse

Die neue Schweizer Gotthardachse verbindet Architektur, Infrastruktur und Landschaft. Seit über 20 Jahren begleitet eine interdisziplinäre Gruppe die Gestaltung aller sichtbaren Teile der transalpinen Flachbahn. Am 11. Dezember 2016 nahm die Schweizer Bundesbahn den Gotthard-Basistunnel offiziell in Betrieb.

Mehrzweckgebäude, Fait 2014 (Bild: CIPM/Franco Banfi)
Unterführung Kantonsstraße, Camorino 2013 (Bild: CIPM/Franco Banfi)

1882 wurde der legendäre Gotthard-Eisenbahntunnel eröffnet. Noch heute vermittelt die Bahnfahrt durch die Kehrtunnel eindrücklich, wie die Schweizer seinerzeit den Alpenraum verkehrstechnisch erschlossen. 2016 und 2019 wird mit den Gotthard- und Ceneri-Basistunneln ein weiteres Jahrhundertprojekt vollendet. Die erste transalpine Flachbahn ist das Herz der „Neuen Eisenbahn-Alpentransversale“ (NEAT). Als Teil des europäischen Hochgeschwindigkeitsnetzes, verbessert die neue Gotthardlinie den Transit­verkehr auf der Nord-Süd-Achse und trägt ­dazu bei, den Schwerlastverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern.

Während den 95 Minuten Fahrt von Zürich nach Lugano haben die Bahnreisenden wenig Zeit, die Faszination der Pionierleistung zu erfassen. Mit den 57 und 15 Kilometer langen Basistunneln und zwei weiteren im Tagbau bietet die Neubaustrecken nur punktuell Ausblicke. Es ist eine Reise in Dunkelheit. Umso wichtiger für die sichtbaren Auswirkungen der Gotthardachse sind daher „hervorragende architektonische Qualität“ und ein „kohärentes Erscheinungsbild“. Dies sind die erklärten Ziele der 1993 gegründeten, interdisziplinären Beratungsgruppe für Gestaltung (BGG).

Dass die BGG das Projekt seit über zwanzig Jahren begleitet, ist einem Zufall geschuldet. 1992 besuchte der Ingenieur Peter Zuber ­(† 2011) eine Ausstellung über den Tessiner Architekten Rino Tami. Der damalige Delegierte für die Gotthardachse der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) war beeindruckt von dessen Arbeit für die Autobahn A2 (Gotthardachse) ab den Sechzigerjahren. Er beschloss die BGG unter Vorsitz des damaligen SBB-Chefarchitekten Uli Huber zu gründen. Mit an Bord waren die Zürcher Architekten Pierre Feddersen, Rainer Klostermann und Pascal Sigrist sowie Flora Ruchat († 2012), seinerzeit Leiterin des Architekturdepartements der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und Gestalterin der Autobahn A16 (Transjurane). Der bekannte Brücken­bauer Christian Menn wirkt als beratender ­Ingenieur bis 2006 und über die Jahre vertreten die Ingenieure Peter Zbinden, Walter Schneebeli und Alex Regli die Bauherrin

AlpTransit Gotthard AG

Die BGG koordiniert alle sichtbaren, sowohl temporären wie dauerhaften Auswirkungen der Gotthardachse zwischen Litti bei Baar und Lugano. Sie erarbeitet Gestaltungsvorgaben für Bautypen und -details, konzipiert mit Skizzen und Modellen ganze Landschaftsteile und einzelne Gebäude oder betreut sie von der Planung bis zur Ausführung mit immer anderen Ingenieurskonsortien. Außerdem erstellt sie Entwürfe und Studien zu späteren Ausbauetappen der Gotthardachse. Im Rahmen der laufenden Bautätigkeit begleitet sie acht Portalbereiche, elf Hauptbauten (vorab Bahntechnik- und Betriebsgebäude), über 40 Brücken und Unterführungen, sowie acht Aufschüttungen aus Aushubmaterial und über 100 Nebenbauten (beispielsweise Technikgebäude, Stollenzugänge, Tierdurchlässe, Brücken, Stützmauern, Unterwerke oder temporäre Arbeitersiedlungen). Von Nord nach Süd ­machen wir Halt an fünf Orten ihrer Arbeit.

Portalbereiche, Erstfeld und Bodio 2014

Die Portallandschaften im Urner Reusstal und in der Tessiner Valle Leventina sind Auftakt und Schlussakkord des Gotthard-Basistunnels. Hier kommen zahllose Anforderungen und Maßstäbe zusammen. Bahntechnikgebäude und Erschließungswege, Becken zum Abkühlen warmen Bergwassers, Gleisspurwechsel und Unterführungen umgeben den Überwerfungsbau, der die ­alte Gotthard-Stammlinie über das Portal des neuen Basistunnels führt. Der großräumliche Schwung erscheint als 800 Meter langer und 12 Meter hoher Sichelbogen. Seine scharfkantige Betonform umfasst ­große Granitblöcke.

Die Tunnelkühlung durch die fahrenden ­Züge selbst beeinflusste die Gestaltung der Portalbereiche entscheidend. Damit zwischen austretender Warmluft und eingesaugter Frischluft kein Kurzschluss entsteht, sind die Röhren versetzt. Wie Nadeln mit spitzwinkligen Enden verkörpern sie das Durchstoßen des Bergs als gestalterisches Leitmotiv und verschwinden seitlich in den Bergflanken. Das sechseckige Profil erübrigt übliche Tagbau-Tunnelvouten und vereint das Lichtraumprofil der Bahn mit aerodynamischen Vorgaben für den idealen Luftstrom. Wenn Personen- und Güterzüge mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde aus den Röhren schießen und warme Bergluft nachziehen, begünstigen die sonnenerwärmten Granitblöcke ihr Aufsteigen und bieten Lebensraum für Pionierpflanzen und Reptilien.

Die sichelförmige Überwerfung hätte durchaus eine begrünte Böschung sein können. Doch die Architektur ist topografisch gedacht, die Landschaft architektonisch. Nun steht der Sichelbogen zeichenhaft für die epochale Leistung am Gotthard und ist vor allem eines: gut 100 000 Tonnen Gestaltungswille. Naturstein als Reverenz an die Landschaftsgestaltung und die Bauten der alten Gotthardlinie und dynamisch geschnittener Beton, der an Rino Tami erinnernd den rauschenden Verkehr inszeniert.

Mehrzweckgebäude, Fait 2014 (Bild: CIPM/Franco Banfi)
Unterführung Kantonsstraße, Camorino 2013 (Bild: CIPM/Franco Banfi)

Die Ähnlichkeit zum Werk des Architekten

Rino Tami ist kein Zufall, denn die BGG analysierte seine Gestaltung der Tessiner ­Autobahn A2 (Gotthardroute) genau und stand beim Bahntunnel vor vergleichbaren Problemen. Als Pascal Sigrist das Wort „combinare“ auf einer Handskizze von Tami las, fühlte er sich bestätigt: „Genau so arbeiten wir. Große Infrastrukturprojekte neigen dazu, eine gebaute Ansammlung fachplanerischer Ansprüche zu werden. Wir fassen Funktionen zusammen und geben ­integralen Lösungen eine klare Form“. Als Vorher-Nachher-Metapher dient ihm das Entlüftungsbauwerk Val Nalps. Der „Auspuff am Ferrari“ ist der erste von der BGG begleitete Bau. Dazu eine kurze Lektion in Tunnelbaukunde: Bei langen Tunneln bohren Mineure nicht nur von zwei Seiten aufeinander zu. Im Berg erstellen sie „Zwischen­angriffe“ und montieren Tunnelbohrmaschinen. Von hier aus fressen sich die bis zu 450 Meter langen Ungetüme nach außen. Abwärme und Baustaub verschlechtern das Klima im ohnehin bis zu 50 Grad heißen und teils feuchten Berg. Vor allem während des Baus ist deshalb eine kräftige Entlüftung nötig.

Einer der drei Zwischenangriffe des Gotthard-Basistunnels liegt weit unter dem Bündner Dorf Sedrun. Er ist das geheime Herz des Projekts und über einen 800 Meter tiefen Schacht erreichbar. Wegen möglicher Nebelbildung liegt der Entlüftungskamin aber nicht beim Dorf, sondern im Seitental Val Nalps. Das ursprüngliche Ingenieursprojekt war ein weiträumig aus dem Fels gesprengter Wendeplatz mit hoch aus dem Steilhang ragendem Kamin aus Betonfertigteilen, dessen Keilform hangwärts vor Lawinen und Steinschlägen schützt und Auffangnetze benötigt. Geschickt löst die gebaute Lösung nun sämtliche Anforderungen in ­einer expressiven Betonplastik: Sie folgt dem Hangverlauf und entlüftet nach vorne anstatt nach oben, ihre unteren breite Keilform teilt die Lawinen und integriert den Wendeplatz. Combinare heißt hier eine sich kompakt an den Hang schmiegende Form sowie weniger Beton und Sprengung.

Aushubablagerung Buzza di Biasca, 2015

Weder Betontier noch Steinsichel sind die größten Eingriffe entlang der Gotthardachse. Mit etwa 6,6 Millionen Tonnen Gewicht ist es der künstliche Berg unweit des Südportals bei Biasca. Die 50 Meter hohe Aufschüttung ist eine von acht und dient gemeinsam mit sechs Bade- und Naturschutzinseln im Urnersee der Ablagerung jener ausgebohrten Gesteinsmassen, die nicht als Betonzuschlag oder zur Geländekulti­vierung verwendet werden. Die Material­bewirtschaftung des Aushubvolumens von mehr als fünf Cheops-Pyramiden ist eine ­anspruchsvolle Logistikleistung. 70 Kilometer Förderbänder transportieren das Gestein zu Betonzentralen, Zwischenlagern und den künstlichen Bergen und Inseln. „Die Ablagerung bei der Buzza di Biasca steht zu ­ihrer Künstlichkeit, anstatt Natur nachzu­ahmen“, erklärt Pascal Sigrist das geometrisierte Ingenieursprojekt. In regelmäßigem Abstand rastern horizontale Wege und vertikale Entwässerungen den künstlichen Berg. Verwitterung und Bewuchs werden die heute scharfe Grenze zur Natur allerdings verwischen.

Mehrzweckgebäude, Fait 2014 (Bild: CIPM/Franco Banfi)
Unterführung Kantonsstraße, Camorino 2013 (Bild: CIPM/Franco Banfi)

Mehrzweckgebäude, Faido 2014

Den Zwischenangriff bei Faido erschließt kein vertikaler Schacht, sondern ein schräger Stollen. Mehrere Kunstbauten fasste die BGG hier in einem kompakten Gebäude zusammen. Die Stützmauer am Hangfuß sieht wie ein 120 Meter langes Betontier aus. Im Schwanz liegen der Eingang des Sondierstollens, die Haustechnik und die Betriebsräume des benachbarten Unterwerks. Die Bahntechnik mit Computern, Steuerung und riesigen Dieselmotoren für Notstrom bildet den Torso. Der 27 Meter hohe, hangwärts geneigte Kopf ist die Lüftungszentrale und verjüngt sich, um die Luft hoch an den Hang zu blasen. Die hier logische Schräge setzt sich über die gesamte Front fort und knickt am Kopfende in die Gegenrichtung. Das kompakte Volumen wirkt behäbig, ganz anders als die ­filigrane Dynamik der Portale und der Entlüftungsskulptur in der Val Nalps. Die dort überzeugende Formensprache verselbständigt sich hier zum manieriert-kristallinen Spiel.

Unterführung Kantonsstraße, Camorino 2013

Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, zitiert Sigrist schmunzelnd Albert Camus, denn die Arbeit der BGG erfordert Beharrlichkeit. Seit Baubeginn im Jahr 2000 begleitet die Gruppe auch über 100 Nebenbauten sowie rund 40 Brücken und Unterführungen. Immer wieder erklärt sie Sinn und Details ihrer Arbeit und überzeugt zahllose Ingenieure, ebenfalls am ­roten Gestaltungsfaden zu ziehen. Dieser ­beruht auf lokal anpassbaren Gestaltungsvorgaben für Tunnelportale und Stolleneingänge, Unterführungen und Brücken, ­Böschungen und Stützmauern, Geländer und Zäune, Betonoberflächen, Farben und Signalelemente.

Bei der Unterführung der Kantonsstraße in Camorino ist vieles wie bei den anderen Straßenunterführungen. Das Querprofil der Wanne ist rechteckig und die Flügelmauern entwickeln sich unmittelbar aus den Stützmauern. Der typische Konsolenkopf der Brücke verbindet Tropfnase, Kabelkanal, Mastfundament für Fahrleitungen, Dienstweg und Lärmschutzelement in einer verbindlichen Geometrie. Anders als bei anderen Unterführungen ist die Zwischenwand in Camorino in polygonale Kreuzstützen aufgelöst. Sie nimmt damit Bezug zu den V-förmigen Stützen der benachbarten Bahnviadukte, unter denen das Tessin eine neue Stadt erträumt. Der Südkanton will die Gotthardachse als städtebaulichen Katalysator nutzen und wittert seine Chance, zum Knotenpunkt zwischen dem süddeutsch-schweizerischen und dem Mailänder Metropolitanraum zu werden.

Dieser Text basiert auf einem Artikel, der in der Septemberausgabe 2014 des Schweizer Architekturmagazins Hochparterre erschienen ist und in Topos 96 veröffentlicht wurde.

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