In Berlin-Kreuzberg gestaltete das Bezirksamt den Graefekiez um. Der Straßenraum sollte neu verteilt werden – weniger Autos, mehr Raum für Menschen, anderen Verkehr und Grün ist die Devise. Anfänglich gab es aufgrund mangelnder Kommunikation Unruhe im Kiez. Wie sich das Projekt nach einem holprigen Start entwickelte, was die Beteiligungsprozesse des Vereins paper planes dazu beitrugen und wie die Bewohner*innen des Graefekiez Verantwortung für ihre Straße übernahmen.

Holpriger Projektstart im Berliner Graefekiez
An dieser Stelle braucht es mehr Mülleimer und Aschenbecher. Hier wären Bänke und Tische gut, da viele Anwohnende keinen eigenen Balkon haben. Diese Einfahrten werden immer zugeparkt. Diese und zahlreiche weitere Ideen, Herausforderungen und Lösungsansätze sind in der „Karte des lokalen Wissens“ zusammengetragen. Die eigentlich insgesamt sieben Karten zeigen den Graefekiez in Berlin-Kreuzberg; entstanden sind sie im Rahmen einer Bürger*innenbeteiligung. Das Projekt, um das es dabei im Großen geht: Im Graefekiez sollten Parkplätze umgewidmet und die Flächen neu gestaltet werden. Wo einst Autos parkten, wachsen nun Pflanzen, kann man auf Parklets Platz nehmen, sind Fahrräder an neue Bügel angeschlossen.
Das Projekt des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg hat zum Ziel, die Verkehrssicherheit im Graefekiez zu verbessern. Der öffentliche Raum soll neu verteilt werden – weniger Platz für Autos, mehr Raum für andere Verkehrsteilnehmer*innen, städtisches Leben und Grün. Der urbane Raum wird damit auch resilienter gegenüber Folgen des Klimawandels. Bessere Sichtachsen sollen Schulwege sicherer machen. Und auch, wenn schlussendlich über 500 Anregungen von Anwohner*innen Eingang in die „Karte des lokalen Wissens“ fanden, hatte das Projekt im Jahr 2022 einen holprigen Start.
Umgestaltung erst einmal testweise in kleinerem Bereich
Im Juni 2022 beschloss die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg, den öffentlichen Raum im Graefekiez umzugestalten. Wie genau das aussehen sollte, stand zu diesem Zeitpunkt nicht fest. Jedoch schrieb die BVV in dem Beschluss, dass im Rahmen des Feldversuchs ein Jahr lang keine privaten Pkws im Graefekiez geparkt werden können. Es folgten Proteste, Medien berichteten; ein an die BVV gerichteter Einwohner*innenantrag mit 1 444 Unterschriften forderte, das Vorhaben einzustellen. Man wolle kein Experiment sein, so der Tenor.
Was zu der Empörung und Abwehrhaltung wohl beigetragen haben mag, war der Mangel an Informationen: „Es gab ein Kommunikationsvakuum“, sagt Simon Wöhr von paper planes e. V. Der gemeinnützige Verein ist unter anderem vom Radbahn-Projekt unter dem Hochbahnviadukt der U1 bekannt. Zum Projekt im Graefekiez kam paper planes Anfang 2023 hinzu und verantwortete die Beteiligungsprozesse. Die Anwohner*innen seien nicht über das Vorhaben informiert worden, berichtet Wöhr. Es gab Verunsicherungen, wann, wo und in welchem Ausmaß die Maßnahmen starten. Dabei sei nach dem BVV-Beschluss als nächster Schritt überhaupt erst angestanden, dass die Verwaltung – in dem Fall das Bezirksamt – prüft, was die BVV da beschlossen hatte. Das Bezirksamt entschied sich schließlich, die Umgestaltung des Graefekiez zunächst in einem kleineren Bereich und in begrenztem Zeitraum testweise durchzuführen.
paper planes verantwortete Beteiligung im Graefekiez
Knapp 19 000 Bewohner*innen leben im Graefekiez im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Der Kiez ist eigentlich schon seit den 1980er-Jahren verkehrsberuhigt. Das Bezirksamt schreibt auf seiner Webseite jedoch von einem „gebauten Missverständnis“: Die Verkehrsberuhigung sei baulich nicht wahrnehmbar, das führe zu unklaren oder gefährlichen Situationen; die Gestaltung des Straßenraums müsse die Verkehrsberuhigung deutlicher vermitteln. Besonders ist am Graefekiez die sehr niedrige Autodichte: Nur 177 Pkw kommen auf 1 000 Einwohner*innen – während es in ganz Berlin 338 und in Deutschland im Durchschnitt sogar 583 Pkw pro 1 000 Einwohner*innen sind. Aufgrund der hohen Bewohner*innendichte und kleinen Fläche des Quartiers kommen im Graefekiez aber natürlich trotzdem viele Autos auf wenig Raum.
Die versuchsweise Umgestaltung eines ersten Teilstücks des Kiezes sollte die Verkehrssicherheit verbessern. Vor allem auch Schulwege für Kinder sollten sicherer werden, indem die Maßnahmen Sichtachsen verbessern. Dafür ausgewählt wurde je ein Abschnitt von Graefestraße und Böckhstraße, die sich kreuzen. Für die Projektziele sollten Kfz-Stellplätze umgenutzt werden – und der öffentliche Raum so neu verteilt werden. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) begleitete das Projekt wissenschaftlich, etwa durch die repräsentative Befragung von Fokusgruppen.
Um die Bürger*innen vor Ort abzuholen, zu informieren und in die Umgestaltung aktiv mit einzubeziehen, kam paper planes zum Projekt dazu. Der Verein war unter dem Motto „Hey Graefekiez! – Wie sieht deine Zukunft aus?“ ein Jahr lang im Kiez aktiv. Sowohl das WZB als auch paper planes wurden nicht vom Bezirksamt beauftragt. Sie agierten unabhängig; ihre Beteiligungen am Projekt im Graefekiez wurden durch andere Mittel finanziert, unter anderem von der Mercator Stiftung, der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) und dem Climate Change Center Berlin.

Parken im Parkhaus statt auf der Straße
Im Rahmen des Projekts setzten die Akteur*innen verschiedene Maßnahmen um. Grundlage dafür war die Umnutzung von 80 Kfz-Stellplätzen. Die Baumaßnahmen liefen von Juli bis Oktober 2023. Das Bezirksamt ließ die Flächen entsiegeln; teils wurden diese in bespielbare Aktionsflächen umgewandelt. Vor allem aber entstanden 16 neue Beete für Bepflanzungen. Mehrere Lade- und Lieferzonen wurden eingerichtet. An diesen ist bis zu 30 Minuten langes Halten für alle möglich, sowohl für Gewerbetreibende als auch Privatpersonen.
Neue Fahrradbügel wurden aufgestellt und Parklets – sogenannte Kiezterrassen – durch den Verein Berlin 21 gebaut. Diese nutzten dann teils auch Schulen oder Kitas, vor denen die Parklets stehen. Neu eingerichtete Jelbi-Station und -Punkte der BVG bringen Fahrrad-, Roller- und Carsharing ins Viertel. E-Scooter lassen sich dabei nur in vorgegebenen Bereichen parken, damit diese keine Wege verstellen. Durch die Maßnahmen fielen natürlich Stellplätze weg. Das Parken privater Pkw sollte stattdessen – gebührenpflichtig – in einem nahegelegenen Parkhaus möglich sein.
Lokales Wissen zum Graefekiez in Karte visualisiert
Die Umgestaltungsmaßnahmen begleitete paper planes mit einer Bürger*innenbeteiligung. Noch vor Beginn der Bauarbeiten veranstaltete paper planes im April 2023 vor Ort den „Markt der Möglichkeiten“. Anwohner*innen konnten auf diesem bereits eigene Ideen, Wünsche, Sorgen äußern, aber auch ganz grundlegend Informationen übers Projekt erhalten. Paper planes räumte also in gewisser Weise mit den Gerüchten auf. Darüber hinaus war der Verein regelmäßig im Graefekiez präsent: mit Vor-Ort-Sprechstunde, die zu Beginn zwei Mal, dann einmal die Woche stattfanden. Sie verschickten Newsletter, verteilten Flyer. Informationen zum Graefekiez-Projekt gab es auf Deutsch, Englisch und Türkisch. Paper Planes organisierte auch Aktiven-Treffen für alle, die sich einbringen wollten. Denn es ging nicht nur darum, zu informieren – Bürger*innen konnten das Projekt auch aktiv mitgestalten.
Der Verein trug alle Informationen in der „Karte des lokalen Wissens“ zusammen. Diese war – und ist weiterhin – digital für alle zugänglich. So konnte man nachverfolgen, was mit den eigenen Kommentaren und Anregungen geschah. Für die neu entstandenen Beete fanden sich Pat*innen: Gruppen von Anwohner*innen oder Büros, die diese gemeinschaftlich bepflanzten und weiterhin pflegen.
Verantwortung für den öffentlichen Raum übernehmen
Paper planes koordinierte diese Prozesse und fungierte als Schnittstelle zum Bezirksamt. Es sollten keine privaten, Schrebergarten-ähnlichen Anlagen entstehen, erklärt Simon Wöhr, sondern Beete, die von allen nutzbar sind. Der Verein bot mit verschiedenen Partner*innen Workshops zu klimaresilienten Pflanzen an; zudem gab es einen Vertiefungsworkshop dazu, mit welchen Lösungen die Bewässerung der Grünanlagen gelingen kann.
Das Engagement der Bürger*innen ist an dieser Stelle auch wichtig: Das Bezirksamt schrieb in einer Mitteilung selbst, dass ihm für hochqualitative Bepflanzung sowie die Pflege dieser die finanziellen und personellen Ressourcen fehlen. Für Klimaanpassung in Form von Begrünung – vor allem, wenn es eine anspruchsvollere, biodiverse Bepflanzung sein soll –, braucht es die Menschen vor Ort, hält auch Simon Wöhr fest. Im Graefekiez übernahmen die Anwohner*innen die Verantwortung für ihre Umgebung, für den öffentlichen Raum, so Wöhr.
Nicht alle Kiez-Bewohner*innen erreicht
Im Laufe des Graefekiez-Projektes gab es auch immer wieder Herausforderungen: So beschrieben Gegner*innen des Projekts eine Infotafel von paper planes mit Graffitis. Das konterten Befürworter*innen der Umgestaltung jedoch mit eigenen, darüber geschriebenen Graffitis – diesmal das Projekt bestärkende. Auch bauliche Hürden taten sich auf: Bei Bodenproben wurden Verunreinigungen festgestellt. Im Rahmen der Entsiegelung wurde schließlich ein Teil des Bodens ausgetauscht und bis in 30 Zentimeter Tiefe neuer Mutterboden aufgetragen. Verzögerungen der Bauarbeiten führten dazu, dass die Pat*innen ihre Beete teils erst im Oktober bepflanzen konnten.
Durch diverse Angebote versuchten die Mitglieder von paper planes, in der Beteiligung möglichst viele Personen im Kiez zu erreichen. Das gelang jedoch nicht in allen Fällen, wie der Verein selbst in der Dokumentation seines Projektes schreibt. So seien nur wenige Anwohner*innen mit Migrationshintergrund bei der Sprechstunde gewesen. Hier hätte eine Ansprechperson, die Türkisch und Arabisch spricht, diese Personengruppen noch besser abholen können, schließt paper planes.
Gesetzeslage hat keine Lösung für Parkproblem parat
Ein großes Thema, zu dem Kiezbewohner*innen immer wieder Sorgen äußerten, sind Belästigungen durch Lärm und Müll – gerade, wenn mehr Sitzmöglichkeiten dazu einladen, auch nachts im öffentlichen Raum zu sitzen. Im Januar 2024 veranstaltete paper planes speziell dazu eine Themenwerkstatt mit Vertreter*innen aus Politik, Bürger*innenschaft und Initiativen.
Ein weiteres, zentrales Problem ist die Parksituation für Gewerbebetriebe im Kiez: Teils sind diese auf Fahrzeuge angewiesen und benötigend entsprechend Stellplätze. Die Lade- und Lieferzonen können diesen Bedarf nicht abdecken. Jedoch lässt die Gesetzeslage in Deutschland gegenwärtig nicht zu, Stellplätze im öffentlichen Raum dauerhaft einem Gewerbebetrieb zuzuweisen. Im Gespräch mit dem WZB, das das Projekt wissenschaftlich begleitete, äußerten Gewerbetreibende aus dem Kiez ihren Unmut über fehlende beziehungsweise irreführende Kommunikation von offizieller Seite. Eine rechtliche Lösung für diese Herausforderung in der Parksituation gab es auch nach Abschluss des Projektes 2024 noch nicht.
„Ein echter Gewinn fürs Viertel“
Was der Verein paper planes aus dem Projekt gelernt hat: „Wenn Parkplätze in begrünte Flächen mit Pflanzen umgewandelt werden, stößt das nach anfänglichen Irritationen meist auf breite Zustimmung, weil die Mehrwerte für alle insbesondere an heißen Tagen spürbar sind“, sagt Simon Wöhr. Anderen Nutzungen der Flächen, beispielsweise mit Sitzgelegenheiten, Spielmöglichkeiten oder alternativen Mobilitätsangeboten, seien viel kritischer gesehen worden. Das zeigte sich im Laufe des Projekts im Graefekiez. Was ebenso wichtig ist: Man müsse die Menschen ernst nehmen und sich ansehen, was sie zu einem Projekt beitragen können. „Es war schön zu sehen, wie wir gemeinsam erreicht haben, dass die Straße zur Verantwortung der Menschen vor Ort wurde“, sagt Wöhr. Und: Wenn Nachbar*innen selbst die Beete vor ihrer Haustüre pflegen, steigt auch bei allen anderen die Wertschätzung für diese Fläche und jeder übernimmt ein Stück mehr Verantwortung für den öffentlichen Raum rund um das eigene Zuhause. „Das ist ein echter Gewinn für das Viertel und das Zusammenleben darin“, findet Wöhr.
Der erste Teil des Projekts, die versuchsweise Umgestaltung von den Abschnitten in Böckh- und Graefestraße, ist bereits seit längerer Zeit abgeschlossen. Im Mai 2024 beschloss die BVV, die Maßnahmen im Graefekiez zu verstetigen. Später im Jahr wurde in dem Viertel eine Parkraumbewirtschaftung eingeführt, die es zuvor dort noch nicht gegeben hatte. Diese Maßnahme könnte zur Entlastung der Parksituation beitragen.
Graefekiez verdeutlicht Beitrag von Bürger*innen zur Klimaanpassung
Auch wenn die verkehrlichen Maßnahmen im Abschlussbericht des WZB insgesamt positiv bewertet werden und das Projekt mehr Grün in den Graefekiez gebracht hat: Aus einem im Januar 2025 in den BVV eingebrachten Antrag lässt sich herauslesen, dass sich die Lage der Verkehrssicherheit – etwa auf den Schulwegen – nicht verbessert habe. Weitere Probleme stellen Durchgangsverkehr, wild parkende Autos sowie weiterhin Parkprobleme für Pflege- und Gewerbeunternehmen da. Noch gibt es diesbezüglich keine weiteren, gefassten Beschlüsse. Die Umgestaltung des öffentlichen Raums scheint aber weiter zu gehen im Graefekiez – wann, wie und wo wird zukünftig zu verfolgen sein.
Was das Projekt jetzt schon gezeigt hat, bringt paper planes in seinem Dokumentationsbericht abschließend auf den Punkt: Durch die Beteiligungsformate sei es den Anwohner*innen möglich gewesen, Ideen und Sorgen zu äußern sowie ihr Lebensumfeld aktiv mitzugestalten. „Insbesondere die gelungene Übernahme von Patenschaft für entsiegelte Straßenflächen zeigt ein Potenzial auf, wie sich Menschen für ihre Nachbarschaft und Stadt engagieren und Ownership übernehmen können und dabei einen echten Unterschied machen bei urbanen Klimaanpassungsmaßnahmen“, folgert paper planes. Der Graefekiez zeigt, wie Stadt und Bewohner*innen gemeinsam an der Stadt der Zukunft arbeiten können.
Mehr Infos zu den Projekten und Aktivitäten von paper planes e. V. gibt es auf der Webseite des Vereins oder auf Instagram.
Weiterlesen: Das „Manifest der freien Straße“ formuliert Ideen für eine Neuordnung städtischer Flächen. Mehr über das Buch der Allianz der freien Straße – zu der auch paper planes e. V. gehört – lesen Sie hier.