03.11.2025

International

Havanna entwickelt informelle Energieinfrastruktur bottom-up

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Dichter Stadtverkehr neben Hochhäusern in einer Schweizer Großstadt, fotografiert von Bin White

Wenn Energieversorgung in den Metropolen der Welt zum Experimentierfeld wird, ist Havanna längst mittendrin: Auf den ersten Blick mag Kubas Hauptstadt wie ein Relikt vergangener Zeiten wirken, doch in ihren Straßen, Hinterhöfen und Dächern wächst derzeit eine informelle Energieinfrastruktur heran, die nicht nur technische Kreativität fordert, sondern auch Fragen nach Resilienz, Governance und urbaner Innovation völlig neu stellt. Wie gelingt diese Bottom-up-Transformation – und was kann die deutschsprachige Planungsszene daraus lernen?

  • Einführung in die Energieherausforderungen und die historische Entwicklung von Havannas Infrastruktur
  • Analyse der informellen, von Bürgern getragenen Energieprojekte und ihrer technischen wie sozialen Dimensionen
  • Erklärung von Schlüsselbegriffen wie informelle Netzwerke, Energiegenossenschaften und urbanes Resilienzmanagement
  • Vertiefung der Governance-Fragen: Wer steuert, wer profitiert, wer trägt Risiken?
  • Vergleich mit europäischen Ansätzen zu nachhaltiger Stadtentwicklung und partizipativer Energieplanung
  • Diskussion über Innovationspotenziale und Risiken der Bottom-up-Strategien
  • Kritische Reflexion über die Übertragbarkeit kubanischer Ansätze im deutschsprachigen Kontext
  • Fazit mit Ausblick auf die Rolle von urbaner Selbstorganisation in der Energiezukunft

Havanna zwischen Energiekrise und urbaner Erfindungsgabe

Wer Havanna besucht, erlebt eine Stadt, die wie aus der Zeit gefallen scheint – bunte Kolonialfassaden, Oldtimer auf holprigen Straßen, improvisierte Märkte auf jedem Platz. Doch unter dieser pittoresken Oberfläche brodelt ein Experiment von globaler Relevanz: die informelle Entwicklung von Energieinfrastruktur durch urbane Gemeinschaften. Schon seit Jahrzehnten kämpft Kuba mit Versorgungslücken. Die chronisch unterfinanzierte öffentliche Stromversorgung, regelmäßige Blackouts und die mangelnde Erneuerung der Netze zwingen die Bewohner, selbst aktiv zu werden. Der kubanische Alltag ist geprägt von Anpassungsstrategien, die weit über einfache Improvisation hinausgehen. Statt auf den nächsten staatlichen Ausbau zu warten, setzen die Menschen auf Eigeninitiative, getrieben von Notwendigkeit, aber auch von Innovationsgeist.

Die Ursachen für diese Situation sind vielfältig. Einerseits blockiert das US-Embargo seit Jahren die Einfuhr moderner Technik, Ersatzteile und Know-how, andererseits fehlt es an Ressourcen für eine umfassende Modernisierung der Energieinfrastruktur. Während in den Metropolen Europas smarte Netzmodernisierung und nachhaltige Stadtentwicklung auf der Agenda stehen, kämpft Havanna um die Stabilisierung des Alltagsbetriebs. Doch gerade diese Krise wird zum Katalysator für neue, informelle Lösungen. Es entstehen parallele, kleinteilige Energieversorgungsstrukturen, die nicht von oben geplant, sondern von unten getragen und weiterentwickelt werden. Diese Praxis ist keineswegs nur eine Übergangslösung, sondern entwickelt sich zunehmend zu einer eigenständigen urbanen Infrastrukturform.

Im Unterschied zu klassischen, zentralisierten Versorgungsmodellen zeichnen sich diese Bottom-up-Netzwerke durch eine bemerkenswerte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aus. Sie nutzen lokale Ressourcen, setzen auf kollektive Organisation und schaffen so eine Resilienz, die zentral gesteuerten Systemen oft fehlt. Das Ergebnis ist eine Stadt, die sich permanent im Wandel befindet – nicht als Ergebnis großangelegter Masterpläne, sondern als Summe unzähliger kleinerer und größerer Initiativen.

Die informelle Energieinfrastruktur Havannas ist somit nicht nur ein technisches, sondern ein soziales Phänomen. Sie ist Ausdruck urbaner Selbstorganisation, solidarischer Nachbarschaften und eines kreativen Umgangs mit Knappheit. Das Planungsverständnis verschiebt sich: Nicht die Behörde, sondern die Bewohner werden zu zentralen Akteuren der Stadtentwicklung. Diese Dynamik stellt tradierte Vorstellungen von Governance, Verantwortung und Innovation radikal in Frage.

Für Stadtplaner, Architekten und Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wirft der kubanische Sonderweg damit eine entscheidende Frage auf: Was kann die professionelle Planung von einer Stadt lernen, in der informelle Strukturen nicht das Problem, sondern die Lösung sind?

Technologien, Netzwerke und soziale Dynamiken: Wie Havanna Energie bottom-up neu denkt

Die Entwicklung informeller Energieinfrastruktur in Havanna ist ein faszinierender Balanceakt zwischen Improvisation und Systematik. Angefangen bei Solarzellen auf den Dächern über gemeinschaftliche Batteriespeicher bis hin zu selbstgebauten Windturbinen – die Stadt ist durchzogen von kreativen Eigenbauten und nachbarschaftlichen Netzwerken. Technisch gesehen handelt es sich dabei um ein Mosaik aus kleinen, oft autarken Systemen, die miteinander verbunden werden und so ein inoffizielles, aber leistungsfähiges Versorgungsnetz bilden.

Ein zentrales Element dieser Entwicklung ist die Nutzung erneuerbarer Energien. Kubas Regierung fördert seit einigen Jahren gezielt Photovoltaik, um die Abhängigkeit vom Import fossiler Brennstoffe zu reduzieren. Doch die eigentliche Innovationskraft entfaltet sich im lokalen Maßstab, wo Nachbarschaften Solarzellen gemeinsam finanzieren, installieren und betreiben. Aus der Not geboren, entstehen hier Energiegenossenschaften, die nicht nur Strom liefern, sondern auch soziale Bindungen stärken. Begriffe wie Prosumer – also der gleichzeitige Produzent und Konsument von Energie – erhalten in Havanna eine ganz eigene, praxisnahe Bedeutung.

Neben der Technik ist die Organisation entscheidend: Urbane Netzwerke koordinieren die Nutzung, Wartung und Erweiterung der Systeme. Kommunikation erfolgt über direkte Nachbarschaftskontakte, informelle Vereinbarungen und manchmal auch mithilfe digitaler Plattformen, die trotz eingeschränkter Internetabdeckung erstaunlich gut funktionieren. Die Beteiligten teilen Wissen, Werkzeuge und oft auch finanzielle Risiken. So entsteht ein Geflecht aus Vertrauen, gegenseitiger Hilfe und kollektiver Verantwortung, das weit über die Grenzen klassischer Stadtplanung hinausreicht.

Bemerkenswert ist dabei die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Instabilität umzugehen. Während technische Standards in Europa oft als Voraussetzung für jede Innovation gelten, zeigt Havanna, dass auch flexible, fehlertolerante Lösungen funktionieren können. Die Systeme werden laufend angepasst, erweitert oder repariert – ein permanenter Beta-Test unter Echtbedingungen. Fehler sind dabei keine Schande, sondern Teil des Prozesses. Der Umgang mit Improvisation ist zur urbanen Kompetenz geworden, die die Resilienz der Stadt nachhaltig stärkt.

Die informelle Energieinfrastruktur ist jedoch kein rechtsfreier Raum. Im Gegenteil: Sie bewegt sich in einem komplexen Geflecht aus staatlichen Vorgaben, lokalen Interessen und internationalen Einflüssen. Die Behörden tolerieren viele Initiativen, fördern sie teils sogar, solange sie zur Stabilisierung der Energieversorgung beitragen. Gleichzeitig bleibt die Kontrolle über größere Systeme – etwa das Einspeisen von Überschussstrom ins öffentliche Netz – fest in staatlicher Hand. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Kontrolle prägt die Entwicklung ebenso wie technische und soziale Innovationen.

Governance, Risiken und Chancen: Wer regiert die informelle Stadt?

Die informelle Entwicklung der Energieinfrastruktur in Havanna wirft zentrale Fragen zur urbanen Governance auf. Wer entscheidet, was gebaut wird? Wer trägt die Verantwortung bei Ausfällen oder Unfällen? Und wie lassen sich bottom-up-Initiativen mit gesamtstädtischen Zielen wie Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang bringen? Die Antworten darauf sind vielschichtig und alles andere als eindeutig.

Ein wesentliches Merkmal der kubanischen Energie-Governance ist die Dezentralisierung von Verantwortung. Während die nationale Energiepolitik weiterhin von oben gesteuert wird, liegt die Alltagsorganisation zunehmend in den Händen lokaler Akteure. Energiegenossenschaften und Nachbarschaftsgruppen übernehmen Aufgaben, die in anderen Kontexten klassischen Energieversorgern vorbehalten sind. Sie bestimmen über Investitionen, Wartung und Lastverteilung, organisieren Schulungen und sichern den Zugang für Bedürftige. Diese Selbstorganisation ist jedoch nicht ohne Risiken: Fehlende technische Standards, unzureichende Absicherung und mangelnde Transparenz können zu Problemen führen – von ineffizienter Nutzung über technische Störungen bis hin zu Sicherheitsrisiken.

Gleichzeitig eröffnet diese neue Governance-Logik Chancen für eine gerechtere und partizipativere Stadtentwicklung. Die direkte Einbindung der Nutzer in Planung und Betrieb fördert ein stärkeres Verantwortungsgefühl und erhöht die Akzeptanz neuer Technologien. Konflikte und Fehlentwicklungen können schneller erkannt und behoben werden. Darüber hinaus entstehen neue Formen der Beteiligung und Mitbestimmung, die auch andere Bereiche der Stadtentwicklung beeinflussen. Die Energiefrage wird so zum Katalysator für eine umfassende Demokratisierung urbaner Prozesse.

Doch das Modell ist nicht ohne Schattenseiten. Es besteht die Gefahr, dass informelle Strukturen bestehende soziale Ungleichheiten reproduzieren oder sogar verschärfen. Wer über Ressourcen, Wissen oder Kontakte verfügt, kann sich besser in die Netzwerke einbringen und profitiert entsprechend stärker. Marginalisierte Gruppen laufen Gefahr, abgehängt zu werden. Hier sind staatliche Stellen und zivilgesellschaftliche Organisationen gefordert, ausgleichend zu wirken und den Zugang zu Chancen und Ressourcen möglichst breit zu öffnen.

Ein weiteres Risiko liegt in der langfristigen Integration informeller Systeme in die offizielle Stadtplanung. Ohne klare Schnittstellen und verbindliche Rahmenbedingungen droht eine Fragmentierung der Versorgung, die gesamtstädtische Effizienz und Nachhaltigkeit untergräbt. Die Herausforderung besteht darin, die Innovationskraft der Bottom-up-Ansätze zu bewahren und zugleich für Kohärenz, Sicherheit und Chancengleichheit zu sorgen. Dies erfordert neue Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren – eine Aufgabe, die auch für europäische Städte zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Lessons learned für Europa: Was kann die deutschsprachige Planung aus Havanna mitnehmen?

Die informelle Energieinfrastruktur Havannas ist keine Blaupause für Berlin, Zürich oder Wien – aber sie ist ein Labor, das zentrale Fragen nachhaltiger Stadtentwicklung auf überraschende Weise beantwortet. In Zeiten wachsender Unsicherheit, Klimawandel und Ressourcenknappheit müssen auch europäische Städte die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Resilienz und Innovation stärken. Die kubanische Erfahrung zeigt, dass technische Perfektion nicht immer Voraussetzung für funktionierende Systeme ist. Viel wichtiger sind Anpassungsfähigkeit, soziale Einbindung und die Bereitschaft, Fehler als Lernchancen zu begreifen.

Für die deutschsprachige Planungsszene ergeben sich daraus mehrere zentrale Erkenntnisse. Erstens: Partizipation ist keine reine Ergänzung professioneller Planung, sondern kann zum Motor urbaner Innovation werden. Die Einbindung lokaler Akteure in Konzeption, Bau und Betrieb von Infrastruktur erhöht nicht nur die Akzeptanz, sondern fördert auch die Entwicklung maßgeschneiderter, resilienter Lösungen. Zweitens: Dezentrale, kleinteilige Systeme sind oft flexibler und robuster als zentrale Großstrukturen – gerade im Umgang mit Unsicherheit und sich wandelnden Anforderungen. Auch in Europa gibt es bereits zahlreiche Beispiele für erfolgreiche Energiegenossenschaften, Quartiersstrommodelle und Bürgerkraftwerke, die von der Havannaer Erfahrung profitieren können.

Drittens: Die Integration informeller und formeller Systeme ist eine Herausforderung, der sich auch europäische Städte stellen müssen. Die Koexistenz verschiedener Versorgungsmodelle erfordert neue Governance-Strukturen, rechtliche Klarheit und technische Schnittstellen. Hier können Pilotprojekte, experimentelle Reallabore und offene Innovationsplattformen helfen, die notwendigen Brücken zu schlagen. Viertens: Soziale Gerechtigkeit bleibt ein zentrales Thema. Der Zugang zu Energieinfrastruktur darf nicht von Einkommen, Herkunft oder Beziehungen abhängen. Planer müssen deshalb gezielt Instrumente entwickeln, um Benachteiligungen auszugleichen und Teilhabe zu sichern.

Ein weiteres wichtiges Learning betrifft die Rolle der Fehlerkultur. Während in europäischen Förderprogrammen häufig ein Null-Fehler-Paradigma herrscht, zeigt Havanna, dass Offenheit für Scheitern und Improvisation Innovationsprozesse beschleunigen kann. Schnelles Experimentieren, gemeinsames Lernen und iterative Anpassung sind Schlüssel zum Erfolg informeller Systeme – und könnten auch der formellen Planung gut tun.

Schließlich bietet Havanna eine erfrischend pragmatische Perspektive auf die Rolle der Stadtbewohner. Sie sind nicht nur Nutzer, sondern aktive Mitgestalter ihrer Infrastruktur. Diese Haltung könnte auch in Europa helfen, die Lücke zwischen ambitionierten Nachhaltigkeitszielen und dem Alltag urbaner Praxis zu schließen. Nicht jede Lösung muss „perfekt“ sein – aber sie muss funktionieren, vor Ort getragen werden und offenbleiben für Weiterentwicklung.

Fazit: Die informelle Stadt als Labor der Energiezukunft

Havannas informelle Energieinfrastruktur ist mehr als eine Notlösung – sie ist ein Labor für urbane Resilienz, soziale Innovation und neue Formen der Stadtentwicklung. Inmitten von Ressourcenknappheit und politischer Unsicherheit entstehen Lösungen, die zentrale Herausforderungen der Energie- und Stadtplanung aufgreifen: Dezentralisierung, Partizipation, Anpassungsfähigkeit. Die kubanische Hauptstadt zeigt, dass professionelle Planung und informelle Selbstorganisation keine Gegensätze sein müssen – im Gegenteil, sie ergänzen sich auf kreative Weise.

Für die deutschsprachige Planungsszene ergibt sich daraus ein klarer Auftrag: Nicht nur nach technischer Perfektion streben, sondern Mut zu Experiment und Fehler zulassen. Informelle Strukturen können Impulse für Innovation und soziale Gerechtigkeit liefern, wenn sie in einen verlässlichen Rahmen eingebettet werden. Die Energiezukunft der Städte wird nicht allein von Masterplänen und Förderprogrammen entschieden, sondern von der Fähigkeit, lokale Potenziale zu erkennen, zu stärken und zu integrieren.

Havanna ist dabei ein Vorbild für urbane Selbstermächtigung, ohne dabei die Risiken zu verschweigen. Die Balance zwischen Autonomie und Koordination, Innovation und Sicherheit, Offenheit und Kontrolle bleibt eine ständige Herausforderung – in Havanna ebenso wie in Hamburg, Zürich oder Wien. Wer sich ihr stellt, kann die Stadt von morgen resilienter, gerechter und lebendiger gestalten. Denn Energieinfrastruktur ist mehr als Technik: Sie ist ein Spiegel der urbanen Gesellschaft – und ein Motor ihrer Erneuerung.

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