02.11.2025

International

Postkoloniale Stadtplanung in Accra – Raumgerechtigkeit und Enteignung neu gedacht

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Stadtverkehr und moderne Architektur in Chengdu, China – Foto von Bin White

Wer Accra nur als bunte Metropole voller Märkte, Küstenwind und improvisierter Urbanität kennt, hat die eigentliche Bühne postkolonialer Stadtplanung noch nicht betreten. Hier, wo Enteignung nicht nur Geschichte, sondern bis heute gelebte Gegenwart ist, wird Raumgerechtigkeit zum Prüfstein einer neuen urbanen Ethik. Was bedeutet Planung, wenn koloniale Spuren tief im Stoff der Stadt liegen? Wie können Planer, Architekten und Stadtverwaltungen in Accra eine gerechtere Zukunft gestalten – und was lernen wir daraus für die Debatten um Eigentum, Teilhabe und städtischen Wandel in Deutschland, Österreich und der Schweiz?

  • Einführung in die postkoloniale Stadtplanung in Accra und ihre Bedeutung für Raumgerechtigkeit.
  • Historische Perspektive auf Enteignung, Urbanisierung und koloniale Machtverhältnisse in Ghanas Hauptstadt.
  • Erklärung zentraler Konzepte wie Raumgerechtigkeit, Urban Commons und partizipative Planung.
  • Analyse aktueller stadtplanerischer Herausforderungen: informelle Siedlungen, Bodenpolitik und soziale Segregation.
  • Konkrete Fallstudien und Projekte, die neue Ansätze in der Enteignung und Flächenvergabe zeigen.
  • Vergleich der Entwicklungen in Accra mit den Debatten um Gerechtigkeit und Enteignung in deutschen Städten.
  • Kritische Reflexion über Macht, Beteiligung und die Rolle von Planern in postkolonialen Kontexten.
  • Strategien für nachhaltige, faire Stadtentwicklung: Von partizipativer Planung über Community Land Trusts bis zu digitaler Kartierung.
  • Ethische und politische Herausforderungen sowie Chancen für transnationale Lernprozesse.
  • Abschließende Bewertung und Ausblick: Was bedeutet eine postkoloniale Perspektive für die Zukunft der Stadtplanung?

Postkoloniale Stadtplanung in Accra: Geschichte, Gegenwart und die Suche nach Gerechtigkeit

Accra, die Hauptstadt Ghanas, steht exemplarisch für die Herausforderungen und Potenziale postkolonialer Stadtplanung im globalen Süden. Mit ihren rund fünf Millionen Einwohnern, einer explosiven Urbanisierungsrate und einer tief verwurzelten kolonialen Vergangenheit ist Accra ein urbanes Labor, das Planer und Theoretiker weltweit fasziniert. Die Stadt wurde im Zuge britischer Kolonialherrschaft gezielt fragmentiert: Europäische Siedlungen, indigene Viertel, Märkte und Regierungsareale entstanden nebeneinander, jedoch selten miteinander. Diese räumliche Ordnung war kein Zufall, sondern Teil einer Herrschaftsstrategie, die bis heute nachwirkt.

Die Geschichte der Enteignung in Accra ist eng mit der britischen Landpolitik verknüpft. Unter kolonialer Verwaltung wurden große Flächen zwangsweise von lokalen Gemeinschaften enteignet, um Infrastrukturprojekte, Verwaltungssitze und europäische Wohnviertel zu ermöglichen. Die Folgen dieser Politik sind bis heute sichtbar: Ungleichheiten beim Zugang zu Land, informelle Siedlungen an den Rändern der Stadt und eine ständige Unsicherheit über Eigentumsrechte prägen das Stadtbild. Wer in Accra plant, muss diese historischen Brüche verstehen, um zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln.

Doch was bedeutet das für professionelle Planer aus Europa? Die Debatte um Raumgerechtigkeit – also die faire Verteilung und Gestaltung von städtischem Raum – wird in Accra nicht akademisch geführt, sondern täglich ausgehandelt. Informelle Siedlungen wie Old Fadama stehen im Zentrum eines permanenten Konflikts zwischen staatlichen Interessen, privaten Investoren und den Bedürfnissen der Bewohner. Enteignung ist hier kein Relikt, sondern ein Werkzeug der Stadtentwicklung, das immer wieder neue Kontroversen auslöst.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich eine neue Generation ghanaischer Stadtplaner herausgebildet, die postkoloniale Perspektiven explizit in ihre Arbeit integriert. Sie hinterfragen traditionelle Eigentumsmodelle, setzen auf partizipative Verfahren und versuchen, lokale Wissenssysteme in die Planung einzubeziehen. Dabei geraten sie oft zwischen die Fronten: Einerseits fordern internationale Geldgeber moderne Infrastrukturprojekte und eine „Ordnung“ der Stadt, andererseits wehren sich lokale Gemeinschaften gegen weitere Enteignungen und Vertreibungen.

Diese Gemengelage macht Accra zu einem einzigartigen Referenzfall für die internationale Diskussion um gerechte Stadtplanung. Die Frage, wie koloniale Altlasten überwunden und neue Formen städtischer Teilhabe geschaffen werden können, ist nicht nur für Ghana relevant. Auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern, in denen Enteignung und Flächengerechtigkeit wieder heiß diskutiert werden, lohnt sich der Blick auf Accra und seine postkolonialen Stadtplaner.

Raumgerechtigkeit und Urban Commons: Theoretische Konzepte und lokale Praktiken

Raumgerechtigkeit ist weit mehr als die gleichmäßige Verteilung von Quadratmetern. Sie beschreibt die Fähigkeit aller Stadtbewohner, unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Status, Zugang zu Infrastruktur, öffentlichem Raum und Entscheidungsmacht zu erlangen. In Accra ist dieses Ideal eine tägliche Herausforderung. Informelle Siedlungen wachsen rasant, oft ohne grundlegende Versorgung und ohne rechtliche Sicherheit. Die klassischen Werkzeuge der europäischen Stadtplanung – etwa Flächennutzungspläne, Bodenrichtwerte, Enteignungsrecht – greifen in diesem Kontext meist ins Leere oder erzeugen neue Ungleichheiten.

Die Diskussion um Urban Commons, also gemeinschaftlich genutzte Ressourcen wie öffentliche Plätze, Wasserstellen oder Märkte, hat in Accra eine besondere Brisanz. Während der Kolonialzeit wurde gemeinschaftlicher Besitz systematisch aufgelöst oder privatisiert. Heute kämpfen viele Communities darum, verloren gegangene Rechte zurückzuerlangen oder neue Modelle kollektiven Eigentums zu etablieren. Community Land Trusts, in denen Land gemeinschaftlich verwaltet und vor Spekulation geschützt wird, gewinnen an Bedeutung. Sie bieten einen Gegenentwurf zur Logik des Marktes und der staatlichen Kontrolle.

Partizipative Planung ist in diesem Umfeld kein Luxus, sondern Überlebensstrategie. Projekte wie die partizipative Umgestaltung von Nima, einem der ältesten Viertel Accras, zeigen, wie lokale Akteure, NGOs und Planer gemeinsam Lösungen erarbeiten. Hier werden nicht nur Pläne gezeichnet, sondern auch soziale Netzwerke gestärkt, Wissen geteilt und neue Formen des Miteigentums erprobt. Transparenz und Inklusion sind zentrale Prinzipien – auch als Antwort auf das Misstrauen gegenüber staatlichen Enteignungsmaßnahmen.

Allerdings ist partizipative Planung kein Allheilmittel. Sie stößt schnell an Grenzen, wenn Machtasymmetrien bestehen oder politische Interessen dominieren. In Accra zeigt sich, dass erfolgreiche Projekte oft von der Fähigkeit abhängen, verschiedene Akteursgruppen zu moderieren und Konflikte produktiv zu machen. Das erfordert Fingerspitzengefühl, Geduld und ein tiefes Verständnis der lokalen Dynamiken. Europäische Planer können hier viel lernen – etwa, dass Planung immer auch ein Aushandlungsprozess ist, in dem soziale Gerechtigkeit und städtische Entwicklung Hand in Hand gehen sollten.

Die theoretische Debatte um Raumgerechtigkeit, Enteignung und Urban Commons ist in Accra keine akademische Übung, sondern urbaner Alltag. Wer hier plant, muss nicht nur das Regelwerk kennen, sondern auch den Mut haben, neue Wege zu gehen. Dabei entstehen Innovationen, die auch für die postkoloniale Stadtplanung in Mitteleuropa von Bedeutung sein können – etwa die Kombination aus kollektiven Landfonds, digitalen Kartierungswerkzeugen und sozialer Mobilisierung.

Enteignung in Accra: Zwischen Zwang, Innovation und neuer Teilhabe

Enteignung ist in Accra ein hochumstrittenes Instrument, das im Spannungsfeld zwischen öffentlichem Interesse, privatem Profit und dem Schutz vulnerabler Gruppen steht. Während die Stadtverwaltung argumentiert, dass Enteignungen notwendig sind, um Straßen, Märkte oder Wohnraum zu schaffen, erleben viele Bewohner sie als Fortsetzung kolonialer Willkür. Besonders betroffen sind informelle Siedlungen, die auf staatlichem Land errichtet wurden, aber oft seit Jahrzehnten bestehen und komplexe soziale Gefüge aufweisen.

Ein besonders aufschlussreiches Beispiel ist der Fall Old Fadama. Hier leben zehntausende Menschen in einer der größten informellen Siedlungen Westafrikas – auf Land, das offiziell dem Staat gehört. Immer wieder gab es Räumungsdrohungen, angeblich im Namen der „Stadtentwicklung“. Doch Widerstand und internationale Aufmerksamkeit führten dazu, dass Enteignung und Umsiedlung neu verhandelt wurden. Heute setzen NGOs und lokale Gruppen auf partizipative Ansätze: Statt Zwangsumsiedlungen werden Infrastrukturverbesserungen, rechtliche Beratung und kollektive Landrechte gefördert.

Innovative Projekte wie die „Accra Urban Land Assembly“ versuchen, neue Modelle der Landvergabe zu etablieren. Hier werden Flächen an Kollektive vergeben, die sich verpflichten, sozialen Wohnraum oder öffentliche Infrastruktur zu schaffen. Damit verschiebt sich der Fokus von individueller Enteignung hin zu gemeinschaftlichem Nutzen. Diese Ansätze sind nicht konfliktfrei, doch sie zeigen, dass Stadtentwicklung auch ohne massenhaften Landverlust für die Schwächsten möglich ist.

Ein weiteres zentrales Thema ist die Digitalisierung der Bodenpolitik. Digitale Kataster und partizipative Mapping-Plattformen können dazu beitragen, Landansprüche transparent zu machen und Enteignungsprozesse nachvollziehbar zu gestalten. Dabei entstehen neue Schnittstellen zwischen staatlicher Planung, zivilgesellschaftlichem Engagement und technischer Innovation. Die Frage ist jedoch, wie weit diese Instrumente wirklich zur Gerechtigkeit beitragen – oder ob sie nicht doch wieder bestehende Machtverhältnisse zementieren.

Die Diskussion um Enteignung in Accra macht deutlich, dass herkömmliche Planungsinstrumente an ihre Grenzen stoßen. Gefragt sind hybride Modelle, die staatliche Steuerung, kollektive Teilhabe und technologische Innovation verbinden. Für Planer in Europa eröffnet sich hier ein Spannungsfeld: Wo kann man von Accra lernen – und wo sind die Unterschiede so groß, dass eine direkte Übertragung unmöglich ist? Klar ist: Die Debatte um Enteignung muss neu geführt werden – mit Blick auf Raumgerechtigkeit, Teilhabe und die besonderen Herausforderungen postkolonialer Städte.

Vergleich und Ausblick: Was kann Europa von Accra lernen – und umgekehrt?

Die postkoloniale Stadtplanung in Accra liefert wertvolle Impulse für die Debatten um Raumgerechtigkeit, Enteignung und Partizipation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Während in Mitteleuropa die Enteignung meist als letztes Mittel zur Durchsetzung von Infrastrukturprojekten betrachtet wird, steht sie in Accra im Zentrum eines vielschichtigen Aushandlungsprozesses. Hier wird deutlich, dass Gerechtigkeit nicht allein durch rechtliche Verfahren, sondern durch kontinuierliche Moderation sozialer Konflikte entsteht.

Ein wichtiger Unterschied liegt in der Rolle des Staates. Während in Europa die öffentliche Hand als Garant von Ausgleich und Gerechtigkeit gilt, wird sie in Accra oft als Akteur wahrgenommen, der alte Machtstrukturen fortschreibt. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Planungsprozesse offener, partizipativer und transparenter zu gestalten. Die Erfahrungen mit Community Land Trusts, kollektiven Eigentumsmodellen und digitaler Kartierung zeigen, dass neue Wege möglich sind – auch jenseits klassischer Enteignungsverfahren.

Für europäische Planer stellt sich die Frage, wie postkoloniale Perspektiven in die eigene Praxis integriert werden können. Das beginnt mit einer kritischen Reflexion über die eigene Geschichte – etwa über koloniale Spuren in deutschen Städten – und reicht bis zur Entwicklung neuer Instrumente für gerechtere Stadtentwicklung. Die Debatte um Rückgabe kolonialer Kunstwerke, um Entschädigungen und um die Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen ist dabei nur ein Anfang. Wesentlich ist, dass Planung als Prozess verstanden wird, der immer auch von Macht, Konflikt und Aushandlung geprägt ist.

Umgekehrt kann Accra von europäischen Erfahrungen profitieren – etwa beim Aufbau von Infrastruktur, bei der Sicherung von Grundrechten oder bei der Entwicklung nachhaltiger Mobilitätskonzepte. Entscheidend ist jedoch, dass solche Impulse nicht als „Exportmodell“ verstanden werden. Vielmehr braucht es einen Dialog auf Augenhöhe, der lokale Kontexte respektiert und Zusammenarbeit auf Augenhöhe ermöglicht. Nur so entstehen Lösungen, die sowohl nachhaltig als auch gerecht sind.

Letztlich ist die postkoloniale Perspektive keine Nische, sondern ein notwendiger Korrektiv für die Planung im 21. Jahrhundert. Sie zwingt dazu, alte Gewissheiten zu hinterfragen, neue Bündnisse zu schmieden und mutig zu experimentieren. Accra zeigt, dass Urbanismus nie abgeschlossen ist – und dass Raumgerechtigkeit ein Ziel bleibt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Für Planer, Architekten und Stadtverwaltungen in Europa liegt darin eine Chance: die eigenen Instrumente zu schärfen, ihre Grenzen zu erkennen – und von den Erfahrungen anderer Städte zu lernen.

Fazit: Raumgerechtigkeit als Kompass postkolonialer Stadtplanung

Die Stadtplanung in Accra steht stellvertretend für die Herausforderungen und Potenziale postkolonialer Urbanität. Zwischen kolonialen Altlasten, informellen Siedlungen und neuen Modellen kollektiven Eigentums wird hier täglich um Raumgerechtigkeit gerungen. Enteignung ist dabei nicht nur ein juristisches Werkzeug, sondern ein politisches und soziales Konfliktfeld – ein Spiegel globaler Ungleichheiten, aber auch ein Labor für innovative Lösungen.

Partizipative Ansätze, Community Land Trusts und digitale Plattformen zeigen, dass gerechte Stadtentwicklung möglich ist – wenn Planer bereit sind, alte Muster zu verlassen und neue Allianzen zu suchen. Die Erfahrungen aus Accra machen deutlich, dass Planung immer auch Moderation, Vermittlung und Empowerment ist. Wer Gerechtigkeit will, muss zuhören, vermitteln und bereit sein, Macht zu teilen.

Für die deutschsprachige Planungsdebatte bietet Accra ein wertvolles Korrektiv: Die Frage, wem die Stadt gehört, ist niemals endgültig geklärt. Sie wird täglich neu verhandelt – durch Planer, Bewohner, Behörden und zivilgesellschaftliche Akteure. Die postkoloniale Perspektive hilft, blinde Flecken zu erkennen und neue Wege zu gehen.

Stadtplanung ist nie neutral, sondern immer politisch. In Accra wird dies mit besonderer Schärfe deutlich – und damit auch die Verantwortung von Planern, Architekten und Verwaltungen, sich für eine gerechtere Stadt einzusetzen. Wer dies anerkennt, kann nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa bessere Städte gestalten.

Accra zeigt: Raumgerechtigkeit ist kein ferner Idealzustand, sondern ein alltäglicher Kampf – und eine Einladung, Stadtplanung als Prozess der ständigen Erneuerung zu begreifen. Postkoloniale Perspektiven sind dabei kein exotischer Luxus, sondern ein Kompass für die Zukunft unserer Städte. Und vielleicht ist das die wichtigste Lektion: Stadt gehört allen – wenn wir es wollen.

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