05.11.2019

Gesellschaft

Die Stadt als Pacemaker?

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Der Park wird zum Sportplatz

Bewegungsmangel im urbanen Alltag verbunden mit zunehmenden gesundheitlichen Konsequenzen bei Menschen jeden Alters – damit kämpfen aktuell einige Städte. Und das obwohl Sport im öffentlichen Raum so beliebt ist, wie nie zuvor. Landschaftsarchitektin Ulrike Böhm findet: Jetzt ist der ideale Zeitpunkt für ganzheitliche Strategien und Masterpläne für städtische Bewegungsräume. Manche Städte starten auch schon voll durch. 

Freiflächen sind in vielerlei Hinsicht ein entscheidender Faktor für die Lebens­qualität in Städten: Sie sind Orte sozialer Integration und ermöglichen die Begeg­nung und gesellschaftliche Teilhabe – hier treffen sich Menschen aller Bevölkerungs­gruppen. Als grüne Inseln verbessern sie das Stadtklima und ermöglichen die ästhetische Erfahrung von Natur und gebauter Umwelt. Und: Sie bilden den Rahmen für Erholung, Spiel und Bewegung. 


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Recherche La Doce: Yeonjun Choe © Städtebau Institut Stuttgart

Genau dieser Rahmen nimmt derzeit an Bedeutung zu. Denn das Spektrum an bewegungs-­ und sportorientierten Aktivi­täten in den öffentlichen Freiräumen weitet sich. Zunehmend organisieren sich Initiativen mit den gleichen sportlichen Interes­sen, oft geschieht das spontan, „bottom­-up“ und in losen Verbünden: Sie verabreden sich über soziale Netzwerke zu Calisthenics, Yoga oder Slacklining. Treffpunkt: der nahe gelegene Park. Zahlreiche Fotos und Videos auf Instagram, YouTube und Co. zeugen von dieser Entwicklung. 

Stadtparks und Grünzüge sind die neuen Sportplätze. Sie müssen diese zusätzliche Belastung verkraften. Gleichzeitig sinkt die Nachfrage nach den Angeboten von Vereinen, die mit zweckbestimmten Frei-­ und Sportflächen ausgestattet sind. Und das, wo die öffentlichen Freiräume ohnehin knapp bemessen sind. Mittelfristig ver­schiebt sich dadurch das Verhältnis zwischen nutzungsoffenen zu zweck­bestimmten Bereichen. Großzügige offene Wiesen werden zerlegt in ein Patchwork aus spezifischen Sport­- und Erholungsan­geboten für ausgewählte Nutzergruppen. Dies geschieht oft ohne Rücksicht auf die vorhandene Gestaltung und ohne den ursprünglich planenden Landschaftsarchi­tekten. 

Dass es sich aber lohnt, die Planung einem Landschaftsarchitekten zu übertragen und die Anforderungen bestenfalls bereits beim Entwerfen von Freiräumen mitzudenken, zeigen Projekte wie der Israels Plads in Kopenhagen von Cobe Architekten, der Landhausplatz in Innsbruck von LAAC und der Westpark in Augsburg von Lohaus Carl Köhlmos Landschaftsarchitekten (siehe Seite 20 in der G+L 11/2019). 


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Recherche Israel Plads: Max Hüffer, Julius Freidrich © Städtebau Institut Stuttgart

Raum für Bewegung

Erfreulich ist, dass mit der neuen Lust nach Bewegung im öffentlichen Raum auch vernachlässigte Orte neu­- oder wiederent­deckt werden. Ein Beispiel ist die Park­garage Park’n’Play von JaJa Architekten in Kopenhagen. Auf dem Dach erstreckt sich eine große Tartanlandschaft mit Kletter­stangen und -­netzen (siehe Seite 36 in der G+L 11/2019).
Auch Areale, die zunächst wenig attraktiv erscheinen wie Verkehrsinfrastruktur oder ehemalige Industrieanlagen, profitieren von dem Trend. Beispiele hierfür sind der 15 Colonnade Bike Park in Seattle oder der Underpass Park in Toronto. Beides waren ungenutzte Restflächen unter Brücken, die Städter für sich entdeckt haben: als Bike Park und Spielplatz. Angeregt durch diese individuelle Aneignung und das Engage­ment bürgerschaftlicher Akteure, werden die beiden Orte inzwischen offiziell umgenutzt und aufgewertet.

Indem solche vormals unattraktiven Bereiche bespielt und belebt werden, ändert sich auch deren öffentliche Wahrnehmung und ihre Konnotation. Anrainer und Nachbarn treffen sich dort. Und schließlich werden Aufwertungsmaßnahmen in Gang gesetzt, die die Qualität des Freiraums verbessern und damit das Nutzerspektrum nochmals erweitern.
Doch es gibt nicht nur die Aktiven, die sich treffen, um gemeinsam Sport zu treiben. Eine aktuelle Studie der Deutschen Krankenversicherung (DKV) zeigt: Mehr als die Hälfte der Bundesbürger bewegt sich nicht einmal eine halbe Stunde am Tag. Politik, Verwaltung und Planungsdiszi­plinen haben diese beiden gegensätzlichen Trends mittlerweile erkannt. Vor allem ein niedrigschwelliges Angebot an Sport­möglichkeiten wäre wichtig. 

Sport Im Wald: Ayşin Can, Susanne Kacik, Sule Karabiyikoglu, Carina Peter © Städtebau Institut Stuttgart

Ganzheitliche Konzepte gefragt

Doch noch sind all diese Fakten kein durchgängiges Entwurfsthema für Freiräume oder Inhalt von städtebaulichen Konzepten. Zudem fehlt es an Förderungen für infor­melle sport­- und bewegungsorientierte Aktivitäten. Erschwerend kommt hinzu, dass die zuständigen Abteilungen in den Verwal­tungen zu Fachgebieten gehören. Für ein stadtweites Konzept zur Entwicklung urbaner Bewegungsräume ist eine ressort­übergreifende Zusammenarbeit notwendig. Dennoch: Eine Handvoll deutscher Städte hat sich des Themas angenommen. Hamburg zum Beispiel wirbt seit 2018 mit dem Label Global Active City. Voraussetzung, um dieses Label der Active Well­being Initiative zu bekommen, sind Angebote für einen aktiven und gesundheitsbewussten Lebensstil. Die Städte müssen sich erfolgreich einer detaillierten Überprüfung ihrer Sport­- und Bewegungsstrategien unterziehen.

Analyse Stuttgarter Stäffele: Arzum Coban, Berta Keerl Ferrer, Alina Gold, Liam Hall, Dominic Plag © Städtebau Institut Stuttgart

Gemeinsame Ziele

 

Auch Stuttgart stellt aktuell einen „Master­plan urbane Bewegungsräume“ auf, um konkrete Lösungsansätze zusammenzutragen. Zwei Ziele stehen dabei im Fokus: Stadträume sollen so gestaltet werden, dass Bewegung im Alltag einfach möglich ist. Und sollen dann schrittweise miteinander verknüpft werden, um körperliche Bewegung zu fördern. Das Konzept ist ressortübergrei­fend angelegt. Teil des Prozesses, den ein Planerteam begleitet, war eine umfangreiche Bürgerbefragung und ein interdisziplinär angelegter Fachtag. 

Es wird klar: das Thema ist auf unterschied­lichen Ebenen verankert. Zum einen geht es um die Bewegung im Alltag. Und damit natürlich um entsprechend gestaltete öffentliche Räume. Aber auch ganz schlicht um den Bäcker oder den Supermarkt nebenan. Schließen sie, machen sich die wenigsten noch zu Fuß auf den dann weiteren Weg. Ist doch das Internet nur einen Klick entfernt und das Auto steht auch gleich um die Ecke. Diesen Entwicklungen müssten die Städte und Gemeinden planerisch entgegenwirken, oder zumindest neue attraktive Ziele schaffen. 

Zum anderen stehen aber auch die ohnehin bewegungsaffinen Menschen im Fokus, die mehr und mehr die Parks erobern und dabei um Fläche konkurrieren. Hier sollten digitale Möglichkeiten geschaffen werden, die es möglich machen, die Aktivitäten zu koordi­nieren. Wenn gleichzeitig eine Diskussion um die Robustheit und die Potenziale unserer öffentlichen Freiräume angestoßen wird, wäre viel gewonnen. 

Auch der klassische Vereinssport und das Gesundheitswesen sind gefragt, wenn es um Synergien geht. Gemeinsam zu Strategien zu kommen für ganzheitlich gedachte urbane Bewegungsräume – das ist die große Heraus­forderung. Die Relevanz des Themas ist in vielen Fachbereichen angekommen. Ein guter Zeitpunkt, um jetzt den Startschuss für eine gemeinsame Strategie zu geben. 

Der Artikel ist erschienen in der Ga+La 11/2019. Hier geht’s zum Shop.

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