29.04.2024

Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Buchrezensionen
Credit Cover: ArchiTangle
Credit Cover: ArchiTangle

Die Obdachlosen erobern die heile Welt: Ein Coffee Table Book, das die schandhaften Seiten der Stadt auf den Tisch bringt.


Von Wohnungspolitik über soziale Aspekte hin zu Architekturpolitik

Who’s Next? ist ein raffiniertes Buch. Beim ersten Ansehen erinnert es unweigerlich an die sogenannten Coffee Table Books. Das sind großformatige Bücher mit schönen Einbänden, deren Inhalte sich zumeist oberflächlich mit Design, Essen, Reisen oder (Innen-)Architektur auseinandersetzen. So werden sie selbst ein beliebtes Dekoelement, das auf den Couchtischen oder anderen Oberflächen im eigenen Zuhause liegend demonstriert, dass die Bewohner*innen Bücher besitzen („Wie belesen!”) und Geschmack („So ästhetisch!”). Kurzum: Ein Coffee Table Book ist ein Feelgood-Ding, das zum Durchblättern anregt. Man begegnet ihm im Privatbereich ebenso wie in schicken Cafés.

Was aber ist Who’s Next? Es ist ein massives, großformatives Buch, dessen Untertitel dem entspricht, was die Leser*innen im Inneren vorfinden: Thematisch wird die Obdachlosigkeit im städtischen Raum und deren konkrete Schnittpunkte zur gebauten Umwelt beleuchtet. Die Herausgeber Daniel Talesnik und Andres Lepik – Lehrende sowie Kurator bzw. Direktor des Architekturmuseums der TUM in München, in dem 2021/22 die Ausstellung erstmals zu sehen war, zu der die Publikation erschien – spannen dabei den Bogen von der Wohnungspolitik und einer Kritik des Wohnungsmarktes, über die sozialen Aspekte der Obdachlosigkeit hin zur Architekturpolitik.


23 Projekte vorgestellt

Danach gehen einzelne Texte auf konkrete Beispiele ein, in denen Städte und ihr spezifischer kultureller Umgang mit Obdachlosigkeit skizziert werden. Sie steht unter anderem in Verbindung mit Begriffen wie Gentrifizierung, Leugnung, systematischen Rassismus und Ungleichheit. Falls dem einen oder der anderen dabei die einzelnen Konzepte nicht ganz klar sein sollten, liegt dem Buch ein von Studierenden der Technischen Universität München konzipiertes Glossar bei, das die zentralen Begriffe erklärt und kontextualisiert. Zu guter Letzt werden 23 realisierte Projekte vorgestellt, bei denen Wohnen für Obdachlose als zentrale Entwurfsaufgabe behandelt wird.

Foto Credit © Christopher Michel
Foto © Christopher Michel

Was die Autor*innen auszeichnet:

Die Beitragenden in diesem Buch sind vor allem eines: interdisziplinär aufgestellt. Viele Architekt*innen kommen zu Wort, ebenso wie Soziolog*innen, Stadtforscher- und planer*innen, Ökonom*innen oder Expert*innen für Menschenrecht und ähnlich gesellschaftsrelevante Politik.


Das ist eine wichtige Aussage:

„Wichtig dabei ist, dass es Bauten sind, die den betroffenen Menschen ihre Würde zurückgeben […].” Diese Aussage ist wichtig, da sie immens weitreichende Konsequenzen mit sich bringt: Die Menschenwürde ist ein universelles Menschenrecht und beeinflusst unsere Politik, aber auch unsere ganz persönliche Sicht auf die Gesellschaft wie sie ist und sein sollte. Mit Wohnen geht nicht nur eine Adresse einher, sondern ein fester Wohnsitz ist auch die Eintrittskarte, als Teilnehmende*r der Gesellschaft akzeptiert und anerkannt zu werden.


Das ist eine Aussage, die zum Nachdenken anregt:

„Entwicklungsländer beherbergen etwa 85 Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung.” (aus dem Glossar zum Begriff Flüchtling)


Der Klappentext wird erfüllt, weil …

… das Thema Obdachlosigkeit und Architektur fundiert erklärt und erörtert wird in seiner Komplexität. Der Fokus liegt nicht nur auf architektonischen Projekten, sondern auch auf den sozialen, ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen von Obdachlosigkeit und was benötigt wird, um das Problem ganzheitlich zu lösen.


Mit diesem Wissen aus dem Buch kann man angeben:

Der Begriff „Skid Row” kommt ursprünglich aus der Holzverarbeitung, wo eingefettete Schrotleitern (skids) für den Straßentransport von Holzstämmen verwendet wurden. Die Gegend um die Skid Row diente den ärmeren Holzarbeiter*innen als Wohnstätte. Eigentlich benennt er das Armenviertel Central City East in Los Angeles, wird heute jedoch auch gänzlich synonym für Obdachlosenviertel verwendet.


Mehr Trend als Klassiker, weil …

… der zeitgenössische Umgang mit Obdachlosigkeit aufgearbeitet wird. Diese Rahmenbedingungen sind laufender Veränderung unterworfen, vor allem auch, weil sich der Standpunkt der Gesellschaft zur Obdachlosigkeit verändert. Galt es früher noch mehr als Eigenverschulden, obdachlos zu werden, werden heute auch die komplexen Ursachen und politischen Rahmenbedingungen für Obdachlosigkeit öffentlich stärker diskutiert.


Kurzer Satz zu

  • Haptik: Umschlag aus dickem Karton, der die großformatigen Seiten stabil zusammenhält. Die hochwertige Fadenheftung ermöglicht ein angenehm flächiges Aufschlagen.
  • Design: Farblich dominierend ist ein kräftiges Pink als Designakzent. Durchwegs große und klare Schrift erleichtert das Lesen.
  • Lesefluss: Die unterschiedlichen Schreibstile der Beitragenden schlagen nur minimal im Lesefluss durch. Die Sprache ist durchgängig gut verständlich und etwaige Anmerkungen und Fußnoten befinden sich am Textende.
  • Bildsprache: Neben Architekturbildern der Beispielprojekte werden im Buch auch viele visuelle Einblicke in das Leben und den Alltag von Obdachlosen rund um den Globus gezeigt. Dabei steht der objektiv-beobachtende Blick im Vordergrund, nicht der voyeuristische.

Was sonst noch wichtig wäre:

Who’s Next? spricht nicht nur Architekt*innen an, sondern auch alle Beteiligten jener Entwurfs- und Entscheidungsprozesse, die die Gesellschaft und prekarisierte Randgruppen betreffen. Die Publikation trägt zu einem bewussteren Umgang mit Obdachlosigkeit bei und verpackt die schwierige Thematik gut verdaulich in einem auch optisch herzeigbaren Buch — zum Beispiel auf dem Coffee Table.


Information:

Who’s Next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

Herausgegeben von Daniel Talesnik und Andres Lepik

Archi Tangle, 2021

272 Seiten, 155 Illustrationen

ISBN: 978-3-96680-018-1

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