01.04.2016

Projekt

Neue Meile in Böblingen

Zwischen Einkaufsmeile und Freizeitraum: Die Böblinger Altstadt besitzt seit Anfang 2015 eine „Neue Meile“ zum Bahnhof. Ein durchgängiger Natursteinbelag, aus der Stadtgeschichte abgeleitete Wasserelemente und mit LED-Technologie gesteuerte Leuchten spielen eine zentrale Rolle.

Die Bahnhofsstraße ist eines der wichtigsten Bindeglieder für Fußgänger zwischen Böblinger Bahnhof und Altstadt. Grund genug für die Stadtplaner, dieses Rückgrat der Unterstadt zu einem öffentlichen Fußgänger-Boulevard umzugestalten, der den rund 300 Meter langen Fußmarsch zum räumlichen Erlebnis macht. Die Aufwertung sollte auch den Einzelhandel stärken und so die Straße als attraktiver und belebter Stadtraum eine Alternative zu den umgebenden Einkaufszentren werden. Die Planung der „Neuen Meile“ nach dem Entwurf des in München und Wien ansässigen Büros bauchplan geht sogar noch einen Schritt weiter: Aus der Dialektik des schnellen Durchquerens und des gemütlichen Flanierens leiteten die Landschaftsarchitekten die Raumorganisation ab.

Böblingen, etwa 20 Kilometer südwestlich von Stuttgart, ist eine städtebauliche Besonderheit. Zusammen mit dem nördlich angrenzenden Sindelfingen bildet es eine Art Doppelstadt, die immer weiter zusammenwächst. Spürbar wird die ehemalige Trennung noch auf dem zwischen beiden großen Kreisstädten liegenden sogenannten Flugfeld, wo sich seit 1915 ein teilweise zivil wie auch militärisch genutzter Flughafen befand. Zwischen 1924 und 1938 war dieser sogar als Landesflughafen Stuttgart-Böblingen ins internationale Liniennetz eingebunden. Heute entsteht auf dem fast 80 Hektar großen Gelände ein Wohn- und Gewerbegebiet, das derzeit zu einem der größten Stadtentwicklungsprojekte in Deutschland zählt. Seinen Charme gewinnt das Areal vor allem durch die nach wie vor ablesbare Form des Flughafens mit den noch vorhandenen, denkmalgeschützten Hallen, dem ehemaligen Empfangsgebäude und dem Tower.

Historische Stadtachse

Die Stadtgeschichte Böblingens reicht (belegt durch Mammut-Funde) weit zurück in die Altsteinzeit. Ihre heutige Gestalt eines halben Ovals um den Schlossberg mit der Marktstraße als Längsachse und rechtwinklig dazu verlaufenden Quergassen erhielt die heutige Altstadt im 13. Jahrhundert. Zwischen Altstadt und Flugfeld, beziehungsweise dem direkt am Flugfeld liegenden Bahnhof befindet sich die Böblinger Unterstadt, mit der Bahnhofsstraße als direkte Verbindung zwischen beiden.

Den Planern ging es darum, eine eigenständige, atmosphärisch wahrnehmbare Identität zu schaffen. Dabei spielten die Materialien für Straßenbelag und Möblierung, das Arrangement der einzelnen Formen und das Beleuchtungskonzept eine zentrale Rolle. Die Landschaftsarchitekten verstehen ihren Entwurf nicht als abgeschlossene Installation, sondern als kontinuierlichen Prozess, der Wandlungsfähigkeit und eine regelmäßige Fortschreibung vorsieht. So schlagen sie vor, die Fußgängerzone künftig als Kaufraum, Freizeitachse oder Eventraum für Märkte oder Freiluft-veranstaltungen zu nutzen, in enger Abstimmung mit den lokalen Akteuren und dem Citymanagement. Die entsprechende Infrastruktur ist in Form von variablen Bodenhülsen, verschiedenen Beleuchtungsoptionen oder den modularen Möbeln bereits Teil des Konzepts.

Der 9.500 Quadratmeter große, neu gestaltete Bereich der Fußgängerzone ist quer zum Fußgängerfluss mit schwerlasttauglichen, 16 Zentimeter dicken und 20 Zentimeter breiten Streifen aus Natursteinplatten in den drei Längen 36, 45 und 60 Zentimeter aus spanischem und portugisischem Granit belegt. In den Aufenthaltsbereichen befinden sich zusätzlich „Ankersteinplatten“ mit den Seitenlängen 40,5 mal 80 bis 120 Zentimeter. Eine Drainbeton-Tragschicht und umlaufende Fugenstäbe nehmen die auf die Belagsoberfläche einwirkenden Kräfte auf.

Die einzelnen, länglichen Steinplatten in unterschiedlich kräftigen Farbtönen, die zwischen Beige und Grau changieren, erinnern an ein ungeordnetes Parkett aus Pixeln. Am Bahnhof zieht sich der Granitbelag über die kreuzende Busspur, wodurch ein großer Platz für die bis zu 35.000 täglichen Pendler entsteht. Der Belag verläuft nicht nur durch die Bahnhofsstraße und das Karree mit Wilhelmstraße/-Olgastraße, sondern fließt auch immer wieder ein paar wenige, für die Erfahrung des Stadtraums aber wichtige Meter weit in die Seitenstraßen hinein. So fasst dieser 18.000 Quadratmeter große „Belagsteppich“ das Gebiet vom Bahnhofsplatz bis zum Elbenplatz. Darauf platzierte das Büro bauchplan die weiteren Gestaltungselemente.

Prägende Stadtmöbel

Den Auftakt der Neuen Meile prägen zahlreiche Lichtstelen, die einen Filter bilden und den Fußgängerstrom entschleunigen. Vorbei an der Waschbetonfassade des Postbankgebäudes fällt zunächst die Möblierung ins Auge, die nicht bloß notwendige Einrichtung ist. Die Landschaftsarchitekten haben sie als „flexibles Inventar“ erdacht, situativ und modular einsetzbar. Nach einem Workshop mit Vertretern verschiedener Nutzergruppen war für das Büro bauchplan klar: Sitzen ohne in Cafés konsumieren zu müssen und in ganz unterschiedlichen Positionen sollen die Möbel ermöglichen – für Jugendliche genauso wie für die mittägliche Arbeitspause.

Ein besonderer Vorteil im öffentlichen Raum: Da die 14 Bänke modular aufgebaut sind, lassen sie sich leicht zerlegen und damit auch in Teilen erneuern. Sogenannte Fahrradtheken dienen zum wettergeschützten Unterstellen von Fahrrädern vor den Geschäften (zumindest was den Sattel angeht) oder können als Präsentationsfläche von den angrenzenden Einzelhändlern genutzt werden. Die Stadtmöbel mit einer Stahlunterkonstruktion und individuell geschnittenen Thermoholzlamellen aus heimischer Esche passen durch ihren warmen, kräftigen Farbton und ihre natürliche Ausstrahlung gut zum Natursteinbelag. Auf Betonvorlegern stehen, im Photolitverfahren hergestellt, Auszüge aus der Böblinger Stadtgeschichte. Als „Walk of Böblingen“ verknüpfen sie den öffentlichen Raum mit der reichhaltigen Kultur der Stadt.

Eine besondere Bedeutung kommt dem für Passanten unmittelbar erfahrbaren Wasser zu: Eine Wasserrinne nimmt die Typologie früherer Wasserspiele im Straßenprofil auf. An einer Baulücke entstand so ein gestalterisch ansprechender barrierefreier Übergang zwischen einem neuen Einkaufszentrum und der bestehenden Kleinhandelsstruktur im weiteren Straßenverlauf. Besonders beliebt bei Jung und Alt ist ein begehbares Wasserspiel am Übergang zur Altstadt, das mit seinem Plätschern den angrenzenden Straßenlärm mildert.

Aufwendiges Beleuchtungskonzept

Das Beleuchtungskonzept der Neuen Meile, entwickelt von den Lichtplanern Lumen3 aus München, ist ein wichtiger Bestandteil der neuen Fußgängerzone. 30 über der Neuen Meile frei schwebende Ringleuchten begrenzen sieben bis neun Meter über dem Boden den Straßenraum nach oben. Die im Durchmesser 2,35 Meter großen und 100 Kilogramm schweren Ringe sind nach außen mit einem semitransparenten Kunststoff verkleidet und beherbergen zwei Lichtsysteme: Im Inneren umlaufende LED-Leisten lassen den Ring während der Dämmerung gleichmäßig, und bei Bedarf auch farbig leuchten. Zusätzlich strahlen acht Spots mit warm-weißem Licht (Lichtfarbe 3000 Kelvin) auf den Belag hinunter. Die Lichtplaner platzierten die Leuchtringe so, dass sie bei Dunkelheit wie an einer Perlenschnur aufgereiht einzelne Lichtinseln erzeugen. Unterschiedliche Lichtintensitäten rhythmisieren dabei optisch den Straßenraum. Dadurch sind die Leuchten prägende Gestaltungselemente der neuen Fußgängerzone.

Schon früher war die Böblinger Bahnhofsstraße eine wichtige Fußgängerverbindung vom Bahnhof zur Altstadt. Deswegen hatte die Stadt sie bereits vor der Umgestaltung mit großzügigen Gehwegen versehen. Dennoch gab es dort – dem Prinzip der autofreundlichen Stadt folgend – zusätzlich eine Fahrspur für Autos mit den dazugehörigen seitlichen Stellplätzen. Der Vergleich mit der Neugestaltung macht deutlich: Durch den einheitlichen Natursteinbelag, die individuell gestalteten Stadtmöbel und das durchdachte Beleuchtungskonzept ist eine stadträumliche Qualität entstanden, die man sich schon früher gewünscht hätte. Die Neue Meile verändert das Bild von Böblingen über die Bahnhofstraße hinaus. Das neue, moderne Zentrum macht nicht nur Lust auf Einkaufen, sondern ist auch architektonisch gesehen ein gelungener Auftakt zur Altstadt mit ihrer mittelalterlichen Bebauung – und ein Musterbeispiel innerstädtischer Entwicklung mit hochwertigen, prägnanten Materialien.

 

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