24.02.2021

Projekt

Probewohnen in Görlitz

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Strukturschwach und abgehängt, kulissenartig und lebendig, kreativ – die östlichste Stadt Deutschlands ist von Gegensätzen geprägt. Zeit für ­Veränderung: Um junge Kreativschaffende in die Stadt zu holen, durften sie in Görlitz probewohnen und arbeiten. Vom Januar 2019 bis März 2020 erhielten 60 Kreativschaffende  im Rahmen des Projekts “Stadt auf Probe” diese Möglichkeit. Die Begleitforschung des Vorhabens vom Interdisziplinären Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) zeigt: Klein- und Mittelstädte haben durchaus ihren Reiz. Die günstigen Mieten, die kurzen Wege, die Familienfreundlichkeit und das attraktive Angebot an Parks und Grünanlagen kamen bei den Teilnehmer*innen von „Stadt auf Probe“ besonders gut an. Die Studie macht aber auch deutlich, dass die Stadt Görlitz ihre Potenziale noch besser ausschöpfen kann: Der Wohnraum ist zwar billig, aber nicht saniert genug, Autos erhalten noch zu viel Raum und die Innenstadt ist zu sehr auf Tourismus ausgelegt. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie fliessen nun in Schlussfolgerungen ein, die das Team des IZS gemeinsam mit den Görlitzer Projektpartner*innen der Stadt präsentieren werden. Hier erfahren Sie alles über die Anfänge des Projekts.

Probewohnen in Görlitz - Teilnehmende am Projekt können während vier Wochen die Görlitzer Altstadt erkunden. (Foto: Frank Kuropka/Wikimedia Commons)

Görlitz fehlt junge Zuzügler*innen

 

Städter*innen leiden unter Großstadtmüdigkeit. Teure Wohnungen, knapper Raum für Kreative und Selbstständige, immer weniger Freiraum und zunehmende Belastungen durch gesteigertes Verkehrsaufkommen: Der Boom großer Städte hat seine Folgen. Viele Großstädter*innen suchen zugunsten der tendenziell abgehängten Abwanderungsregionen nach Alternativen. Denn während das Leben in den Metropolen für viele unerträglich wird, locken diese Städte mit günstigen Mieten und reichlich Platz. Wie beispielsweise Görlitz. 7 000 Wohnungen stehen hier momentan leer.

Für die Beschreibung von Görlitz verwenden viele Stadtplaner*innen gerne das Adjektiv „strukturschwach“. Dabei wächst die Stadt seit 2014 wieder leicht, nachdem sie mit der Wende mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hatte. Die Stadt bietet heute eine breit gefächerte Palette an Wohn- und Arbeitsräumen zu moderaten Preisen, ein attraktives Umfeld durch ein breites Kulturangebot und ein historisches Stadtbild, das immer wieder als Filmkulisse diente.

Viele Teile der Altstadt wurden von 1995 bis 2016 aufwendig saniert, weshalb heute viele Gebäude im Zentrum in alter Pracht glänzen. Den übrigen Leerständen hat man den Kampf angesagt und engagiert sich mit entsprechenden Initiativen. Das Projekt „Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ sticht dabei heraus.

Das Vorhaben wird im Rahmen der „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ vom Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) gefördert und vom Dresdner Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung (IÖR) organisiert. Dreimal schon lud Görlitz in der Vergangenheit zum einwöchigen Probewohnen ein, 2015 nahm das Projekt seinen Anfang. Hier lag der Fokus auf dem reinen Wohnen.

Viele ungebundene Rentner*innen bewarben sich. Woran es der sächsischen Stadt allerdings fehlt sind jüngere Zuzügler*innen. Das Experiment passte das IÖR für die vierte Runde, die seit Januar dieses Jahres läuft, dementsprechend an: Der Zeitraum wurde von einer Woche auf vier Wochen ausgeweitet, und erstmals stehen den Teilnehmer*innen neben Probewohnungen auch Arbeitsräume kostenfrei zur Verfügung.

149 Bewerbungen gingen 2018 für Probewohnen in Görlitz ein

„Mit dem neuen Konzept sprechen wir hauptsächlich Menschen an, die standortunabhängig arbeiten und somit ihre Arbeit einfach mitbringen können“, erzählt Heike Hensel, Mitarbeiterin am IÖR. Die vierte Projekt­runde richtet sich folglich speziell an Selbstständige, Freischaffende sowie Kreative. Es stehen nicht mehr nur die Wohnqualitäten von Görlitz im Zentrum. Die Teilnehmer*innen sollen die Stadt auch als Wirtschaftsstandort und potenziellen Arbeitsort testen.

149 Bewerbungen gingen für die aktuelle Runde ein, bis zum 31. Oktober letzten Jahres hatten Anwärter*innen die Möglichkeit, ihr Interesse zu bekunden. 54 Haushalte gehören zu den Auserwählten, die seit dem Frühjahr über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren je einen Monat lang das Leben in der Stadt an der Neiße ausprobieren. Die „Stadt auf Probe“-Wohnungen werden unentgeltlich von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft gestellt, die Arbeitsräume von drei lokalen Vereinen.

Bei Letzteren handelt es sich um einen Büroarbeitsplatz in einem Coworking Space, einen Werkstattarbeitsplatz in einem kreativen Kultur- und Gewerbezentrum sowie einen Atelierarbeitsplatz mit Ausstellungsmöglichkeit in einem Künstler*innentreffpunkt. Lokale kreative Initiativen unterstützen das Projekt. Darunter das Kühlhaus Görlitz. „Wir möchten dazu beitragen, dass die in Görlitz bereits lebendige Kreativszene über die Stadtgrenzen hinaus weiter bekannt wird“, erläutert Danilo Kuscher, Vorstand des Vereins.

Gleichzeitig weiten das Kühlhaus und seine kreativen Kolleg*innen wie „KoLABORacja“ oder „Wildwuchs“ durch das Projekt ihre eigenen Kontakte aus. Sie sind als gut vernetzte Ansprechpartner*innen im Probewohnen-Paket enthalten. Im Vorfeld und während des Aufenthaltes begleiten sie die Görlitzer auf Probe und unterstützen bei Kontaktaufnahme und Netzwerkbildung vor Ort.

Großstädte verdrängen Potenzial

Zwei von drei Bewerber*innen des Probewohnens kamen aus Städten mit mehr als 100 000 Einwohner*innen, jede*r Dritte aus Berlin. Robert Knippschild, Leiter des IÖR, sieht darin einen Gegentrend zur Urbanisierung in Deutschland. „Mittelstädte wie Görlitz sind interessante alternative Standorte, weil sie mehr Ruhe und kürzere Wege bieten“, sagt Knippschild. „Außerdem drängen steigende Immobilienpreise die Leute aus den Großstädten heraus.“

Besonders Kreative haben es in diesen Regionen schwer. Verdrängungen des kreativen Milieus sind die Folge. Und das obwohl der Kreativwirtschaft in der Stadtentwicklung ein bedeutendes Potenzial zukommt: Die Branche ermöglicht jungen Menschen Erwerbs- und Verwirklichungspotenziale, trägt aktiv zu einer Bereicherung des Stadtlebens bei und steigert nachhaltig die Attraktivität einer Stadt.

Stellvertreterin für Mittelstädte

„Die zentrale Frage unseres Projekts lautet: Inwiefern können kleinere, aber attraktive Städte jenseits der Metropolregionen von der Entwicklung „Großstadtmüdigkeit“ profitieren und eine Alternative für gestresste Städter*innen bieten?“, so Knippschild. Man will von den Bewohner*innen auf Probe lernen. Während des vierwöchigen Aufenthalts befragen Robert Knippschild und sein Team die Probebewohner*innen: zu ihrer Motivation, am Projekt teilzunehmen, zu ihren Anforderungen an einen neuen Wohn- und Arbeitsstandort sowie zu ihren Erfahrungen in Görlitz.

Anschließend wertet das IÖR die Fragebögen wissenschaftlich aus und veröffentlicht sie in einer Begleitstudie. Die Ergebnisse sollen helfen, Parameter zu identifizieren, die abgehängte Regionen und strukturschwache Städte für junge, gut ausgebildete Menschen attraktiv machen. Denn vielen Städten, die von der Strukturkrise betroffen sind, ergeht es nicht anders. Entsprechend will das IÖR mithilfe des Probewohnen-Projekts Handlungs­empfehlungen für die Stadtentwicklung von Görlitz, aber auch für vergleichbare Städte entwickeln. Görlitz steht stellvertretend für zahlreiche Mittelstädte in Deutschland.

Probewohnen in Görlitz: Projekt mit Aussicht

Das Projekt „Stadt auf Probe“ und die Stadt Görlitz lernen mit jeder weiteren Runde dazu. Um das wirkliche Leben in der Stadt besser beurteilen zu können, hatten sich frühere Teilnehmer*innen neben Wohnraum einen Arbeitsplatz und einen längeren Aufenthalt in Görlitz gewünscht. Die Anregungen arbeiteten die Verantwortlichen in das Programm ein. Die Stadt nahm ebenfalls Anregungen entgegen, wie beispielsweise den Wunsch nach mehr Parkplätzen in Wohnungsnähe, nach mehr Grün in den Innenhöfen oder nach Fahrstühlen in mehrgeschossigen Häusern.

Der Verein organisierte ein Herbstfest. (Foto: Kühlhaus Görlitz e.V./ Juliane Wedlich)

Kann man das Projekt folglich als erfolgreich beschreiben? Ja, denn das Vorhaben beginnt, Früchte zu tragen: Einige ehemalige Probebewohner*innen sind tatsächlich geblieben. Das Projekt ist ein Geschenk für die Stadt, denn es hat Signalwirkung. Es sorgt dafür, dass Görlitz mit anderen Augen gesehen wird. Die Stadt bietet wie einst Berlin Schaffens- und Freiräume für Kreative. Wie viele weitere Teilnehmer*innen sich diese Räume zu eigen machen werden und ob die breite Masse folgen wird, bleibt jedoch unklar.

Dieser Artikel erschien in der G+L 10/2012 zum Thema kreative Stadt.

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