02.02.2022

Projekte

Ikea Wien – Schwedenregal als grüne Lunge?

Ikea Wien

Ikea Wien


Ein Gerüst schafft Platz

Diesmal nicht blau-gelb, riesig, monofunktional und in Stadtrandlage präsentiert sich das neue Ikea-Kaufhaus in Wien. Sondern luftig, mit begrünter Fassade, gemischter Nutzung sowie freundlich zum urbanen Umfeld. Mag sein, dass Querkraft Architekten ein Prototyp für das Großkaufhaus des 21. Jahrhunderts gelungen ist. Hier stellen wir Ihnen das Projekt vor.

Als der schwedische Möbelriese vor etlichen Jahren das Ansinnen hatte, neben den bereits bestehenden Möbelhäusern im Süden und Norden der Stadt ein weiteres im Westen zu errichten, gab die Stadt Wien, deren Planungsressort damals die Grünen innehatten, neue Spielregeln vor: ja zu einem neuen Ikea in Wien, aber nur zu einem Gebäude, das keinerlei zusätzlichen Autoverkehr induziert.

Ein Standort fand sich direkt neben dem Westbahnhof; dort musste das wegen seiner Fassadenfarbe sogenannte „Blaue Haus“ weichen, das zu Zeiten der Monarchie Ende des 19. Jahrhunderts als Verwaltungsbau der Staatseisenbahndirektion errichtet, später für Wohnzwecke adaptiert und bei einer Sanierung in den 1950er-Jahren seines Fassadenschmucks entledigt wurde. Der Abbruch der zwar nicht mehr sehr ansehnlichen, aber alles andere als baufälligen Substanz stieß auf Proteste. Er bot schließlich aber auch die Chance für die Aktivierung einer vernachlässigten Ecke am Anfang des äußeren, jenseits der Gürtelstraße um die innerstädtischen Bezirke gelegenen Teils der Mariahilfer Straße. Aus einem mehrstufigen geladenen Wettbewerbsverfahren ging das Projekt der für pragmatische Gebäude mit Esprit bekannten Querkraft Architekten hervor.

„We want to be a good neighbour“ war das Briefing für den Wettbewerb. Die Wiener Architekt*innen legten ihr Konzept so an, dass später auch andere Nutzer*innen gute Nachbar*innen sein könnten. Denn neben Ikea gab es auch vier Geschäfte, die bereits im Vorgängerbau in der Erdgeschosszone angesiedelt waren. Dazu kam dann in den Obergeschossen ein Jo & Joe-Hostel des Accor-Konzerns. Mit einem Stützenraster von zehn mal zehn Metern und ausschließlich entlang der Außenwände angeordneten Versorgungschächten bleiben die Geschossebenen frei disponierbar. Rundum erhielt das Gebäude eine – wie die Architekt*innen es nennen – „Aura“ in Form eines Gerüsts aus weißen Stahlträgern. Partiell nimmt diese 4,3 Meter tiefe Schicht Treppen Aufzüge und Sanitärblöcke auf.

Ansonsten bespielten Querkraft Architekten sie wie ein riesiges Regal. Manche Fächer wurden zu Balkonen, Loggien oder Schaufenstern, manche blieben frei oder wurden mit Bäumen und Sträuchern in riesigen Töpfen bestückt – sie bilden das signifikanteste Erkennungsmerkmal des Gebäudes. Die Stadtplanung forderte die Errichtung einer Arkade mit vier Metern Höhe und ebenso viel Tiefe entlang der Mariahilfer Straße, um die bislang beengte Situation im Wartebereich der Straßenbahnhaltestelle zu verbessern. Mit dem Regalkonzept erhielt sie viel mehr: Durch das Zurücksetzen des geschlossenen Gebäudevolumens von der Baufluchtlinie entstand mehr Distanz zu den Nachbar*innen und zugleich mehr öffentlicher Raum, der im Gegensatz zu einer Arkade durch das offene Gerüst nach oben nicht begrenzt ist.

Ikea Wien, Fassade (Foto: Ikea)
Ikea Wien
Ikea Wien, Innenraum (Foto: Ikea)

Autofrei und ohne Konsumzwang 

 

Die Dachterrasse ist auch außerhalb der Öffnungszeiten – im Sommer bis in späte Nachtstunden – zugänglich. Drinks und Snacks werden in zwei Kiosken angeboten. Konsumzwang herrscht keiner. Die Sportlicheren nehmen die direkt vom Europaplatz aus hinaufführende, platzsparende mit einer Fluchttreppe verschränkte Treppe, die bequemer Veranlagten den Lift. Beiderseits davon leiten Kundeneingänge ins Innere. Außerdem gelangen die mit Bahn oder U-Bahn Anreisenden über einen weiteren Zugang aus der Shopping-Passage des benachbarten Bahnhofs trockenen Fußes ans Ziel. Die Planer*innen errichteten keinen einzigen Pkw-Parkplatz, dafür gibt es über 200 Fahrradstellplätze.

Das zentrale Atrium im Inneren verteilt das Tageslicht im Kern des Gebäudes über die Geschosse. Gute Tageslichtversorgung und Sicht ins Freie wird nicht nur der Kundschaft, sondern auch den Mitarbeiter*innen – selbst den unsichtbaren an der Spüle der Restaurantküche – zuteil. Dagegen bedienen Roboter das unterirdische Lager vollautomatisch. Die Lieferung findet über die Seitenstraße an der Westseite statt, wo dank einer Drehscheibe im Gebäudeinneren kein Lieferwagen im öffentlichen Raum rangieren muss. Das Konzept des Bauherrn ist, dass vor Ort nur Produkte erhältlich sind, die ohne Auto mitgenommen werden können; Größeres wird bestellt und tags darauf mit Elektrotransportern emissionsfrei zugestellt.

Über den inneren Erschließungskern ist das Möbelhaus mit dem Hostel verbunden, dessen Gastronomiebereich im fünften Obergeschoss allgemein offensteht. Alle Gästezimmer haben Grünbezug – entweder in die vertikale Parklandschaft entlang der Fassaden oder zu einem der drei bepflanzten Innenhöfe.

Ikea Wien, Dachterrasse (Foto: Ikea)

Ikea in Wien als urbaner Wald 

 

Den mehrdimensionalen Stadtwald aus 160 bis zu sechs Metern hohen Bäumen, Sträuchern, Stauden und Rankpflanzen konzipierte der Landschaftsarchitekt Joachim Kräftner. Unterstützung für das Vorhaben bekam er von den Begrünungsexpert*innen Green4Cities. Der Stadtwald besteht aus einer für die Verwendung am Gebäude und das Wiener pannonische Klima geeigneten Vegetation aus heimischen Bäumen wie Schwarzkiefern, Birken, Ahornen und Wildkirschen zusammen mit Farnen und Beerenhölzern, die oft das Unterholz skandinavischer Wälder prägen.

Für sie wurde ein Umfeld geschaffen, in dem ein langlebiges Wachstum möglich ist. Mit mehr als 30 Bewässerungskreisen wird jeder Baum und jeder Pflanztrog automatisch und sensorgesteuert versorgt; überschüssiges Wasser wird über ein Rinnensystem abgeleitet. Die in der Form klassischer Tonblumentöpfe gehaltenen Pflanztöpfe aus Metall entwickelten die Beteiligten eigens für das Projekt. Sie sind am Boden verschraubt und je nach Standort mit Stahlseilen gesichert. Zudem sorgt eine Verankerung der Wurzelballen im Trog dafür, dass hohe Windlasten dem urbanen Wald nicht den Garaus machen.

Ansicht
Ikea Wien im urbanen Kontext (Foto: Ikea)

Flächen um Ikea Wien warten auf Neugestaltung

Im Vergleich zum früheren Bestand vermindert die intensive Begrünung, die zudem Biodiversität durch Artenvielfalt fördert, an Hitzetagen die Lufttemperatur im Straßenraum um bis zu 1,5 Grad Celsius, wie man feststellte. Dies bestätigte das verliehene „Greenpass-Platinum-Zertifikat“. Auf der Dachterrasse wird an heißen Tagen die gefühlte Temperatur um mehr als 12 Grad kühler wahrgenommen. Ein Gewinn für die Stadt, denn dieser Freiraum soll Passant*innen zum Spazierengehen mit Ausblick über die Stadt bishin zum Schneeberg einladen. Neben Strom spenden die Solarpaneele auf dem Dach auch Schatten. Ein Batteriespeicher sorgt für bestmögliche Ausnutzung der Photovoltaikanlage mit einer Gesamtleistung von 88 kWp und ersetzt herkömmliche Notfall-Aggregate.

Die Eröffnung im August 2021 war von Demonstrationen begleitet. Der Möbelkonzern betreibe „Greenwashing“ lautete der Vorwurf. Man gäbe sich mit dem Wiener Kaufhaus ein grünes Image, während in Rumänien illegal Wälder abgeholzt und Umweltstandards verletzt werden. Auch wenn die Investitionen in die Begrünungsmaßnahmen nicht uneigennützig sind, leistet das Gebäude durchaus einen Beitrag zur Klimaresilienz in einem mit Grünflächen unterversorgten Stadtteil. Nisthilfen für Mauersegler an der Fassade und Insektenhotels machen es auch für nichtmenschliche Lebewesen zu einem attraktiven Ort. Jedenfalls erfüllte der schwedische Konzern alle Bedingungen, die ihm im Rahmen eines städtebaulichen Vertrags auferlegt wurden. Wer säumig ist, ist die Stadt Wien – mittlerweile haben die Sozialdemokraten die Planungsagenden inne – selbst. Die in Aussicht gestellte Verkehrsberuhigung samt Neugestaltung der öffentlichen Flächen harrt noch der Umsetzung.

Dieser Beitrag erschien erstmals in der Novemberausgabe 2021 des BAUMEISTER, einem Schwestermagazin der G+L. Unsere Kolleg*innen veröffentlichten das Projekt in ihrer Nachhaltigkeitsserie des BAUMEISTERS. Warum die Mini-Serie auch für Landschaftsarchitekt*innen und Stadtplaner*innen interessant ist, haben wir BAUMEISTER-Chefredakteur Fabian Peters im Interview gefragt.

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