26.02.2023

Gesellschaft

Manifest der freien Straße: Buchrezension

Buchrezensionen
Der Vordergrund wird von einem mächtigen Stamm dominiert. Dahinter erblickt man einen begrünten Straßenraum. Unter einem stattlichen Baum steht ein Lastenfahrrad. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.
In ihrer Publikation fordert die Allianz der freien Straße ein Umdenken und die Neuordnung städtischer Flächen. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.

Der öffentliche Stadtraum ist für alle da – könnte man zumindest meinen. Zahlreiche Straßen scheinen stattdessen vor allem für Pkws geplant und von diesen besetzt zu werden. Die Allianz der freien Straße will das ändern. Wie das aussehen könnte, zeigt sie in der Publikation „Manifest der freien Straße”. Eine Buchrezension.

Jahrzehntelang dominierten Autos den öffentlichen Raum. Die – vor allem in Städten – knappe Ressource Raum wird nicht gemeinschaftlich genutzt und verhandelt, sondern durch fahrende und parkende PKWs besetzt. Dagegen stellt sich die Allianz der freien Straße. Mit einer Ausstellung, Straßenraumexperimenten und nun mit der begleitenden Buchveröffentlichung: dem Manifest der freien Straße. Darin fordert sie ein radikales Umdenken und eine Neuordnung der städtischen Flächen zugunsten einer lebenswerteren Zukunft.

Worum es geht:

Das Manifest der freien Straße, ausformuliert von der Allianz der freien Straße, fordert ein Umdenken in der Gestaltung des Stadtraumes. Noch genauer, dem Stadtraum, der allen gemeinsam dienen kann und doch seit Jahrzehnten einseitig beplant wird: die Straße. In sieben Thesen werden die Probleme und Potenziale ebenjenes Raumes verhandelt. Als Themenschwerpunkte dienen die Nachbarschaft, die Mobilität, die Wirtschaft, die Gesundheit, das Klima, die Politik und die Beteiligung. Dabei folgt jedes Kapitel einem einheitlichen Aufbau. Auf die Einleitung folgt eine Analyse, die durch historische Entwicklungen, Beispielprojekte und Statistiken unterfüttert wird. Im Anschluss formuliert die Deklaration ein Szenario, wie die Straße zukünftig sozialer und nachhaltiger gestaltet werden kann. Dieses wird durch skizzenhafte Schnitte und einen Comic bebildert. Abschließend klärt ein Glossar die wesentlichen Begriffe.  Eine Liste mit weiterführenden Literaturhinweisen zum Themenschwerpunkt steht am Ende.

Ein offener, überdachter Gang aus Ziegelsteinen, darin halten sich mehrere Personen auf, links und rechts davon Straßen mit Bussen und Gebäuden. Zu den sieben Themenschwerpunkten finden sich im „Manifest der freien Straße“ je auch Zukunftsbilder, wie dieses hier für das Thema Mobilität. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.
Zu den sieben Themenschwerpunkten finden sich im „Manifest der freien Straße“ je auch Zukunftsbilder, wie dieses hier für das Thema Mobilität. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.

Was die Autor*innen auszeichnet:

Hinter der Publikation steht die sogenannte Allianz der freien Straße. Diese besteht aus einer durchmischten Gruppe von Forschenden, Planer*innen und Kreativen. Dazu zählt unter anderem die gemeinnützige Denkfabrik paper planes e.V., die sich für ein „besseres Leben zwischen den Häusern“ einsetzt. Weiterhin vertreten sind eine Forschungsgruppe des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung sowie Vertreter*innen des Fachgebiets Arbeitslehre/Technik und Partizipation der TU Berlin. Im Sommer 2022 betrieben sie in Berlin Kreuzberg das sogenannte Experience Lab, wo sie ihre Thesen nahbar machten.

Das ist eine tolle Aussage:

„Der gesellschaftliche Zusammenhalt leidet darunter, wenn wir uns in abgeschotteten (Teil-)Öffentlichkeiten bewegen und andere Lebensweisen kaum erleben. Ambivalenz-Toleranz, also die Fähigkeit, ganz andere Lebensformen und Identitäten nicht nur zu erleben, sondern auch als gleichberechtigt anzuerkennen, ist nicht selbstverständlich. Sie muss erlernt werden. Die Chance dazu hängt auch mit der Gestaltung der Straße zusammen.“ (Seite 14)

Eine unbefestigte Straße, darüber Sonnensegel gespannt, Kinder spielen Fußball. Am Straßenrand Wohnhausbebauung, im Hintergrund ein Kirchturm. Auch für die Gesundheitsthese findet sich in der Publikation ein Zukunftsbild. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.
Auch für die Gesundheitsthese findet sich in der Publikation ein Zukunftsbild. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / paper planes e. V.

Das sind Aussagen, die zum Nachdenken anregen:

„Bis heute wird die Vormachtstellung des Autos in unseren Städten kaum als das Ergebnis einer bewussten politischen Entscheidung gesehen, sondern als Selbstverständlichkeit wahrgenommen“ (Seite 34)

„Der Platz wird neu verteilt – das ist mühsam und wird nicht ohne Konflikte gehen.“ (Seite 36)

„Als Städterinnen und Städter müssen wir jetzt erkennen, dass wir zugleich Verursachende und Betroffene des Klimawandels sind, aber auch Handlungsmöglichkeiten haben, um diese Situation zu verändern.“  (Seite 96)

„Jede große gesellschaftliche Veränderung ist von Verunsicherung und Verlustängsten geprägt.“ (Seite 143)

Der Klappentext wird erfüllt, weil…

Der Klappentext stellt das Dogma der Autovorherrschaft im öffentlichen Raum infrage und stellt Möglichkeiten des Wandels in Aussicht. Diesen Anspruch erfüllt das Buch, indem nicht nur die letzten 70 Jahre der Autodominanz unter verschiedenen Gesichtspunkten aufgearbeitet, sondern auch Szenarien für die Zukunft angeboten werden.

Mit diesem Wissen aus dem Buch kann man angeben:

Fakten aus der Statistik helfen, die Ist-Situation zu verstehen und gleichzeitig an Zukunftsvisionen zu glauben.

Erschreckend ist zum Beispiel, die Verbrauchssteigerung bei Verpackungsmaterial durch das enorm gestiegene Aufkommen von Onlinebestellungen. Seit 1996 bis heute beläuft sich der Anstieg auf über 600 Prozent. Ebenso aufrütteln sollte die Information, dass täglich sieben Tote und 800 Verletzte durch den Pkw-Verkehr zu beklagen sind. Oder auch, dass alle 24 Stunden eine Fläche von der Größe von 82 Fußballfeldern neu als Bauland ausgewiesen wird.

Diverse Beispielprojekte zeigen aber auch, dass ein Wandel möglich ist. Die Wirtschaftsthese fordert unter anderem, dass Produktion und Gewerbe in die Stadt zurückkehren. Und in Wien gelingt dies bereits: Dort produziert der Schokoladenwaffelhersteller Manner bewusst im Stadtgebiet statt auf der grünen Wiese. Und im Kapitel Politikthese wird auf die Experimentierklauseln verwiesen, die einen rechtlichen Rahmen bieten, um innovative Mobilitätslösungen zu erproben.

Mehr Klassiker als Trend, weil…

…die Klimakrise kein Trend ist und die Grundlagen für die Neugestaltung des öffentlichen Straßenraumes thematisch grundsätzlich auch kein Trend sein sollten. Im Speziellen bietet die Publikation dazu einen guten Überblick zum Status quo und informiert mit Glossar, Statistiken und Literaturverweisen.

Am Ende eines jeden Kapitels findet sich ein Comic. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / Carlo Miatello & paper planes e. V., @carlo.miatello
Am Ende eines jeden Kapitels findet sich ein Comic. Abbildung: Manifest der Freien Strasse / Carlo Miatello & paper planes e. V., @carlo.miatello

In Kürze

Haptik:

Mit knapp 160 Seiten in DinA4-Format mutet die Publikation wie eine stabilere Broschüre an. Die matten Seiten sind griffig. 

Design:

Das Layout ist klar in Kapitel gegliedert, die jeweils mit doppelseitig überspannender Visualisierung den Themenbereich ankündigen. Der Text ist in kurzen Abschnitten gehalten und lässt viel Luft. Eine Vielzahl an Skizzen und Grafiken illustriert die Inhalte.   

Lesefluss:

Die Sprache ist einfach verständlich, und dem Textfluss ist somit leicht zu folgen. Die Herausgeber*innen wechseln zwischen objektiv-beschreibender und subjektiv-fordernder Ausdrucksweise zur Verdeutlichung ihrer Positionen. 

Bildsprache: 

Die Illustrationen wurden eigens für die Publikation angefertigt. Sie geben der Veröffentlichung eine Leichtigkeit und Lockerheit in der Vermittlung. Auffallend sind vor allem auch die liebevoll gezeichneten Comics am Ende jedes Kapitels. 

Information:

Wie bei vielen Debatten rund um die Klimakrise gilt auch hier: Viele der zusammengetragenen Informationen sollten altbekannt sein. Um ins Bewusstsein der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu geraten, können sie jedoch wohl nicht oft genug reproduziert werden. Dafür gibt das Buch einen guten Überblick, indem es sowohl über historische Entwicklungen als auch zu aktuellen Handlungsanweisungen informiert. An mancher Stelle wäre eine tiefere Auseinandersetzung noch wünschenswert.

Was sonst noch wichtig wäre: 

Das Manifest der freien Straße fordert ein Umdenken und zeigt, wie die Zukunft idealerweise aussehen könnte. Um den proklamierten Wandel zu erreichen, muss sich in der Realität einiges ändern. Unter www.strassen-befreien.de können Interessierte sich verknüpfen – sowie Schritte unternehmen, um einen ökologisch und sozial gerechteren Straßenraum Wirklichkeit werden zu lassen. 

Mehr spannenden Lesestoff gibt es zudem hier.

In der Februarausgabe der G+L haben wir uns mit der Fahrradstadt auseinandergesetzt. Das Heft gibt’s hier in unserem Shop.

Noch mehr Interesse an Mobilitätsthemen? Wie wäre es dann mit unserem Mobilitäts-Bundle mit vier G+L-Ausgaben.

Scroll to Top