Freche Formulierungen und sensible Bilder
„Urbainable – stadthaltig. Positionen zur eurpäischen Stadt für das 21. Jahrhundert“ ist die aktuelle Ausstellung in der Akademie der Künste Berlin – noch bis zum 22. November 2020. Wir haben die Ausstellung besucht und erklären, wieso Sie ihre Lesebrille nicht vergessen sollten.
Es ist die erste Ausstellung in der Akademie der Künste Berlin am Hanseatenweg nach dem Lockdown und die vierte, ausgerichtet von der Sektion Baukunst. Vor zehn Jahren gestartet mit „Wiederkehr der Landschaft“, widmet sie sich zuvor dem Kampf um den öffentlichen Raum und blickt jetzt auf die Zukunft der europäischen Stadt, so Kurator und Architekt Matthias Sauerbruch bei der Eröffnung. Die Hypothese: Die Stadt ist viel besser als ihr momentaner Ruf. Mag sie auch als Ressourcenverschleuderin, Bodenversieglerin Nummer 1 und Sozialstreß-Verursacherin gelten, sie begegnet den weltweiten Dilemmas unserer Zeit – von Klimafrage bis Gesellschaftswandel – mit oft unerkannten Lösungen.
Wer die Ausstellung besucht, sollte wissen, auf welche Fragen er oder sie eine Antwort sucht, sonst fällt die Orientierung schwer. Es gilt: lesen, lesen, lesen. Das Ausstellungsdesign verzichtet auf Leitfragen und verfrachtet 34 Konzepte wie Werkbeispiele in einzelne, isoliert voneinander stehende Kubaturen, errichtet aus den dunklen Modulen eines wiederverwendbaren Schalungssystems. Ökologisch betrachtet löblich, nur fehlt ein sinnliches Raumerlebnis als Gegenpol zum intellektuellen Schwergewicht.
Dafür gelingt das in einigen der Beiträgen, die alle ausschließlich von Akademie-Mitgliedern stammen. Sie waren aufgerufen, gemeinsam mit einem Nichtmitglied an ihrer Seite eine Installation einzureichen. Transolar Energietechnik aus Stuttgart führen beispielsweise hautnah vor, wie sich die Stadterwärmung bei uns in 30 Jahren anfühlen wird. In Interviewfilmen beleuchtet Landschaftsarchitektin Regine Keller zusammen mit der früheren Münchner Stadtbaurätin Christiane Thalgott die ökologische wie politische Bedeutung des Bodengrunds, auf dem wir bauen. Der Schweizer Landschaftsarchitekt Guido Hager wiederum lässt aus seinem Ausstellungs-Carré heraus den Blick frei schweifen in einen der ausnehmend schönen Innenhöfe der Akademie.
Das wahre, poetische Highlight befindet sich direkt am Start der Ausstellung in einer eigenen Rauminstallation mit wunderbaren Fotografien. Tim Rieniets, ebenso Ausstellungskurator, und das Institut für Entwerfen und Städtebau Leibniz Uni Hannover erfinden hier für nüchterne Statistikauswertungen genial freche Formulierungen und bringen sie als Informationsgrafik an die Wände rundum, etwa die Erkenntnis „überdurchschnittlich viele Menschen, die öffentliche Verkehrsmittel nutzen, sind jung, weiblich und urban“ oder „in Städten können Minderheiten zur Mehrheit werden“. Zu diesem unkonventionell-pointierten Blick auf die Stadt von heute gesellen sich sensible Bilder des Stadtchronisten Erik-Jan Ouwerkerk.