06.07.2023

Gesellschaft

E-Scooter: Heilmittel oder Todesstoß?

Lady Florence Norman auf einem Autoped, circa 1916. Heute sind E-Scooter aus den Städten nicht mehr wegzudenken. Quelle: wikicommons
Lady Florence Norman auf einem Autoped, circa 1916. Heute sind E-Scooter aus den Städten nicht mehr wegzudenken. Quelle: wikicommons

E-Scooter gelten als die Heilsbringer der städtischen Mobilität. Doch welche Fahrten ersetzen sie wirklich? Wie nachhaltig ist der Leih-E-Scooter-Markt? Welche Gefahren lauern beim Fahren? Und wer profitiert wirklich davon, wenn sich Menschen statt mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln nun mit den Scootern fortbewegen? Hier finden Sie die Antworten auf die drängendsten Fragen rund um das Geschäft mit den E-Scootern.


Vom Hype zur Frustration

E-Scooter sind für viele aus der Liste der typischen Fortbewegungsmittel nicht mehr wegzudenken. Während es seit gut zwanzig Jahren bereits die Tretroller im heimischen Straßenbild gibt, sind erst vor circa 5 Jahren ganze Fluten an Leih-E-Scooter über die Ballungszentren hereingebrochen. Zu erkennen sind sie an den markanten Farben wie Limettengrün, Pink, Orange oder Türkis. Dass aber die Legislative beziehungsweise hier die Städte und Kommunen, wie bei anderen Massentrends auch, erst spät oder retroaktiv in das Geschehen eingriffen, führte zu einer komplexen Gemengelage. Diese hat letztlich nicht nur juristische, sondern auch gesellschaftspolitische Folgen.

Denn noch überall wechselte die anfängliche Euphorie der Nutzer*innen früher oder später zu Frustration und Unzufriedenheit. Bei einem Höchststand von 25 000 E-Scootern hat man beispielsweise in Oslo auf die Aluminiumflut reagiert und reguliert nun den Wucher rigoros. Bereits 2021 hat die Stadt eine Obergrenze für kommerzielle E-Scooter eingerichtet und mit 8 000 Stück gedeckelt. Was ist also passiert am Weg vom Hype zur großen Frustration? Eine wichtige Spurensuche, denn generell wird hier nichts weniger ausverhandelt, als die Frage, wie unsere Städte zukünftig aussehen sollen – und wer dabei seine Finger im Spiel hat.


Einfaches Mietsystem

Dabei ist die Geschichte der E-Scooter eine Geschichte voller Missverständnisse. Zuerst wurden sie für Privatpersonen auf den Markt gebracht. Das Potenzial der spontan nutzbaren Roller brachte jedoch schnell Firmen auf den Plan, die große Flotten an billigen Scootern in den Städten zum Leihen anboten. Eine scheinbare Win-Win-Situation, in der die Städte ergänzende Fortbewegungsmittel bekommen, und Firmen ihre Rendite.

Mittels App kann jeder unkompliziert ein Kund*innenkonto anlegen, damit die nächstgelegenen Roller ausfindig machen, reservieren und nutzen. Der große Vorteil gegenüber der bis dahin üblichen Leihfahrrad-Systeme ist, dass die Scooter an jedem beliebigen Ort auch wieder abgestellt werden können. Bezahlt wird bequem via App. Hat man ein Kund*innenkonto bei einem bestimmten Anbieter*innen, kann man in jeder beliebigen Stadt die zugehörigen Flottenfahrzeuge nutzen. Aber mit großer Macht kommt eben auch große Verantwortung.

Eine Flut an E-Scootern. Quelle: unsplash/Jonas Jacobsson
Quelle: unsplash/Jonas Jacobsson

Öffentliche Räume und privater Müll

Die mit derer großen Anzahl einhergehenden Probleme machen die E-Scooter zum drängenden Thema in der Straßenverkehrsordnung sowie generell im Stadtbild. Ein Roller allein macht aber noch keinen juristischen Drahtseilakt. Was zu Beginn jedoch geschah, war ein unreguliertes Überangebot an Leihgeräten, die dann oft achtlos von Nutzer*innen auf den Gehsteigen oder taktilen Leitsystemen abgestellt wurden. Nicht wenige landen in örtlichen Gewässern. Weil derart versenkte Scooter aber für die Firmen keinen großen finanziellen Verlust darstellten, fühlten sie sich auch nicht mehr für sie verantwortlich.

Mit dieser Entwicklung mussten Gesetze geschrieben werden, die bereits vorhandene Situationen regelten. So gibt es in Paris auch heute noch sogenannte „clean-up patrols“, also Putztruppen, die im Auftrag der Anbieter*innenfirmen nicht nur die Straßen, sondern auch die Flüsse und den Grünraum von kaputten oder unbenutzbaren Fahrzeugen befreien. Anne Hidalgo, seit 2014 Bürgermeisterin von Paris, hatte die Situation als „anarchisch“ beschrieben, einer demokratischen Metropole ungenügend. Die französische Verkehrsministerin Elisabeth Borne sprach im Kontext der Scooterproblematik sogar vom „Gesetz des Dschungels“.

Im Jahr 2019 gab es europaweit 19 international tätige Anbieter*innen von tausenden Leihgeräten. Der achtlose Umgang mit ihnen ist nicht nur ein Problem für Menschen, die durch umgekippte oder schlecht geparkte Scooter auf ihren Wegen kein Durchkommen mehr finden. Die batteriebetriebenen Geräte sind vor allem auch ein Umweltproblem, wenn die Batterien in der Umwelt landen, sie nicht ordnungsgemäß recycelt und somit der Kreislaufwirtschaft entnommen werden. In vielen Städten wird die fehlende Regulierung als Ländersache angeprangert, die Verantwortungen werden auf den jeweils anderen Zuständigkeitsbereich abgewälzt.


Regeln und Gesetze

Zumindest mussten die Scooter juristisch im Rahmen der Straßenverkehrsordnung eingeordnet werden, um klare Verhältnisse zu schaffen. So wurde in vielen Städten bis heute ein Abstellverbot auf Gehsteigen durchgesetzt, mittlerweile ist das Fahren in den meisten Ländern nur noch auf Fahrradwegen und nur in Ausnahmefällen auf der Straße erlaubt. Laut Straßenverkehrsordnung in Deutschland, Skandinavien und Co. sind die E-Scooter Fahrrädern gleichgestellt. Das hat den Sinn, dass man bei Unklarheiten auf ein bestehendes und ausgereiftes System zurückgreifen kann, in dem juristisch bereits alle Rechte sowie Regeln definiert sind. Das Problem hierbei ist, dass die für Fahrräder geltenden Bestimmungen nicht in allen Bereichen eins zu eins auf Scooter umgelegt werden können – oder sollen.


Fahrrad vs. E-Scooter

Fahrräder existieren in unseren Kulturkreisen seit Jahrhunderten. Auch wenn man selbst kein Fahrrad fährt, weiß man ungefähr, welche Verhaltensweisen damit okay sind – und welche nicht, beispielsweise das Fahren auf dem Gehsteig. Motorisierte Scooter sind nicht nur eine verhältnismäßig junge Erfindung, die Fortbewegung ist weiters nicht ausschließlich limitiert auf die eigene Körperkraft. Weil sie allerdings weder schwer noch groß sind, bedarf ihr Gebrauch keine gesonderte Fahrerlaubnis. Dadurch sind sie für jene attraktiv, die bisher nicht am Individualverkehr teilgenommen haben und deshalb auch die Straßenverkehrsordnung nicht kennen. Zudem sind die meisten E-Scooter-Fahrer*innen ohne Helm unterwegs, tödliche Unfälle sind spätestens seit 2019 dokumentiert.

Häufige Unfälle, besonders mit Fußgängern, sind auch mit ein Grund, weshalb in Paris nun die Reißleine gezogen werden musste. Bürgermeisterin Anne Hidalgo setzte nach einer Volksbefragung mit geringer Beteiligung – aber dafür umso klarem Ergebnis (89 Prozent der abgegebenen Stimmen votierten gegen die E-Scooter) – eine Reduktion der Leihgeräte sowie strengere Gesetze für diese um. Mit dem ersten September 2023 sollen die circa 15 000 E-Scooter aus dem Pariser Stadtbild verschwinden. Hidalgo hat dabei abseits der Sicherheit auch ein anderes Ziel im Auge: Paris soll die erste 15-Minuten-Großstadt werden.

Freilich gibt es auch für die medienwirksamen Bestrebungen der europäischen Metropole einen triftigen Grund, abseits der Lebensqualität für ihre über zwei Millionen Einwohner*innen: Paris ist Gastgeberin der Olympischen Spiele 2024. Bis dahin hätte die Stadt sogar autofrei werden sollen. Aktuell baut Hidalgo die Fußgänger*innenzonen aus und setzt auf die Begrünung vom Stadtraum. Die Innenstadt soll bis 2024 weitgehend autofrei werden. Allerdings wurde geplantes Inkrafttreten von Fahrverboten dazu Jahre nach hinten verschoben.

Wie Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, das Ziel der 15-Minuten-Stadt erreichen will, sehen Sie in diesem Video:


Die nicht-moderne 15-Minuten-Stadt

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt besagt, dass alle notwendigen Einrichtungen innerhalb von 15 Minuten mit nachhaltigen Verkehrsmitteln erreichbar sein sollen. Es steht dabei konträr zum seit Jahrzehnten verfestigten modernen Stadtbild, das eine Funktionsteilung vorsieht: Wohnen, Arbeiten und Industrie sollen möglichst räumlich getrennt werden, um eine Funktionsreinheit zu gewährleisten. Was hierbei allerdings automatisch mitgeplant wird, sind lange Wege für alle, die sich zwischen den einzelnen Funktionen hin- und herbewegen (müssen). Dieses Konzept forciert unweigerlich den Privatbesitz von Autos. Eine Stadt mit weniger Autos muss daher von der Utopie der modernen Stadt abweichen.

Paris steht mit diesem Ziel auch auf europäischem Grund nicht alleine da. Barcelona will, zwar mit einem anderen Konzept, jedoch mit demselben Ziel, seine typische Block-Struktur überarbeiten. Das Ergebnis sind die sogenannten Superblocks, deren Konzept die Zusammenlegung mehrerer Blocks vorsieht. In deren Mitte entsteht eine autofreie Zone, die vorwiegend Fußgänger*innen gehören soll. Einzelne Versuche wurden bereits realisiert und das Resümee fällt durchweg positiv aus: Weniger Verkehr und weniger gefährliche Straßensituationen, bessere Luftqualität, mehr Ruhe, mehr Möglichkeiten zur Begrünung und damit eine Verringerung von Hitze sind die quantifizierbaren Vorteile der Superblocks.

In beiden Fällen ist die Frage nach den E-Scootern im städtischen Verkehr mit zu berücksichtigen.


E-Scooter in den Städten

In vielen Ländern sind E-Scooter Fahrrädern gleichgestellt, um eine juristische Grundlage für deren Nutzung zu haben. In Wien wurden ab 2018 aufgrund der Problematik mit kaputten und widerrechtlich abgestellten E-Scootern stärker reglementiert. Nur unmotorisierte Tretroller dürfen auch auf dem Gehweg fahren. In Österreich gelten E-Scooter seit 2019 als Fahrräder im Sinne der Straßenverkehrsordnung (StVO) und dürfen, genauso wie in Paris, beispielsweise nicht auf Gehsteigen abgestellt werden.

Seit 2023 gibt es in Wien auch um sogenannte Hotspots (also hochfrequentierte Orte) eigene Abstellzonen, in denen die E-Scooter geparkt werden müssen. In Oslo wurden Nachtfahrten im Stadtgebiet verboten, um die erhöhte Unfallgefahr unter Alkoholeinfluss zu verringern. Die Regierung der norwegischen Hauptstadt sah jedoch eines der Probleme genau darin, dass E-Scooter mit Fahrrädern rechtlich gleichgesetzt wurden. Denn so wurden sie auch einer strengeren Regulierungsmöglichkeit entzogen.

In Kopenhagen darf man die E-Scooter zwar benutzen, aber nicht in der Innenstadt abstellen oder anmieten. Damit verfestigt die Fahrradhauptstadt Europas ihr wohlgepflegtes Image. In Schweden hat man die Flut an E-Scooter mit erhöhten Gebühren für die Anbieter*innen in den Griff bekommen. So soll auch der achtlose Umgang mit dem Fortbewegungsmittel vermindert werden. Das Ranking über die Scooter-freundlichsten Städte Europas führte, noch vor der Reduktion der Geräte, Oslo an.

Scooter-freundliche Städte am Höhepunkt ihrer Beliebtheit:

  • Oslo
  • Rom
  • Madrid
  • Zürich
  • Lissabon

Besonders ins Gewicht fiel hierbei, wie viele Geräte insgesamt zur Verfügung standen. Bei den derzeitigen Entwicklungen ist durchaus davon auszugehen, dass abseits von Oslo und Paris auch weitere Städte, insbesondere jene, die beliebt bei Tourist*innen sind, zunehmend restriktiver mit den Geräten umgehen.

Immer öfter dürfen E-Scooter nur noch in extra gekennzeichneten Abstellflächen abgestellt werden. Quelle: unsplash/Christina Spinnen
Immer öfter, wie hier in Paris, dürfen E-Scooter nur noch in extra gekennzeichneten Abstellflächen abgestellt werden. Quelle: unsplash/Christina Spinnen

Problematische Nutzungsdauer

Beim Beginn der Leih-E-Scooter in Europas Städten 2018 wurde die durchschnittliche Nutzungsdauer eines Geräts mit lediglich circa 30 Tagen veranschlagt. (Die Daten stammen hierbei aus den USA.) Aus gutem Grund gibt es auch fünf Jahre später noch keine wirklich belastbaren Datensätze, die Aufschluss über die tatsächliche Nachhaltigkeit in Sachen Nutzungsdauer geben könnten.

Die erhobene Nutzungsdauer variiert stark. So lag sie 2019 teilweise bei wenigen Monaten und damit deutlich kürzer als privat genutzte Roller. Dafür würde bei privaten E-Scootern aufgrund des hohen Preises für den Akkutausch und der relativ schlechten Verarbeitung der Roller, mit Ableben der Batterie das ganze Gefährt vollends verschrottet. Leihgeräte wären stabiler und für mehrfache Reparaturen ausgelegt. Zwei bis drei Jahre wird ein Scooter im Durchschnitt genutzt, geben die Verleiher*innen zumindest mittlerweile, 2023, an.

Die Anbieter*innen haben ein großes Interesse daran, die Nutzungsdauer der Geräte nicht zu eruieren. Schließlich werben so gut wie alle Firmen mit dem Schlagwort Nachhaltigkeit für ihre Produkte. Und natürlich haben E-Scooter viele Vorteile in Punkto Nachhaltigkeit für die Fortbewegung in der Stadt. Sie sind flexibel nutzbar, verbrauchen wenig Platz, laufen ohne Verbrennermotor via wiederaufladbarer Batterie und verursachen somit vor Ort weder Lärm noch Abgase.


Die Grenzen des Produkts und das mit gemietete Image

Vor allem junge Menschen in den großen Städten verwenden die Leihgeräte, was das hip-urbane Image noch zusätzlich unterstreicht. Gleichzeitig sind die Nachteile der Nutzung im Ballungszentrum evident. Fußgänger*innen, Radfahrer*innen und Autofahrer*innen sind die flinken, wendigen und leisen E-Scooter ein Dorn im Auge. In Fußgänger*innenzonen sind sie tendenziell zu schnell, auf den Straßen zu langsam unterwegs. Auf den Gehsteigen haben sie nichts verloren und das große Vorurteil ist, dass sich die Nutzer*innen an keinerlei Straßenverkehrsordnung halten.

Durch das Leihen gehen die Nutzer*innen auch eine geringere emotionale Bindung zu den E-Scootern ein, womit sie achtloser mit ihnen umgehen, als sie es zum Beispiel mit eigenen Geräten tun würden. Auf Druck der Städte und Kommunen implementierten die Anbieter*innen Sicherheitsvorkehrungen, wie etwa, dass von abgestellten E-Scootern ein Foto gemacht werden muss. Dieses hält dann den ordnungsgemäßen Zustand sowie den legalen Abstellort dokumentarisch fest. So wird missbräuchlicher Umgang mit den Leihgeräten unterbunden.

Achtlos abgestellte E-Scooter sind ein Problem. Quelle: unsplash/Ernest Ojeh

Die letzten Meter

Eine weitere Frage bei der Nutzung von E-Scootern stellt sich hinsichtlich der Fahrten, die sie ersetzen. Paris war 2018 die erste europäische Stadt, in denen E-Scooter auf Leihbasis verfügbar waren. Barcelona und Madrid folgten auf dem Fuß. 2019 gab es bereits insgesamt 19 Anbieter*innen in Europa.

Die größten Anbieter*innen in Europa sind unter anderen:

  • Tier (Deutschland)
  • Bolt (Estland)
  • Voi (Schweden)
  • Lime (USA)
  • Bird (USA)

Lime behauptet, dass seit der Firmengründung 2017 fast ein Fünftel aller Scooter-Fahrten eine Autofahrt ersetzt haben. Der Hype zu Beginn war groß, denn E-Scooter schienen viele Mobilitätsprobleme direkt bei den Nutzer*innen zu lösen: Sie sind extrem flexibel in der Nutzung, einfach zu mieten und abzustellen und können die „letzte Meile“ überbrücken. Damit ist der Weg gemeint, den eine Person vom Aus-/Abstieg des letzten Fortbewegungsmittel bis zur Zieldestination zu Fuß zurücklegen muss.


Großes Potenzial für die Randbezirke

Nachdem Busse und Co ein fixes Haltestellennetz anfahren, wird oft für die sprichwörtlichen letzten Meter, die mal mehr, mal weniger lang ausfallen können, eine Überbrückungslösung benötigt. Denn wenn man mit von der Bushaltestelle noch weiter zwanzig Minuten bis zum Ziel gehen muss, sinkt die Attraktivität nachhaltiger Verkehrsmittel rapide. Das Auto ist als von-Tür-zu-Tür-Lösung in vielen Gegenden bisher ungeschlagen, hat aber die Nachteile der hohen Anschaffungs- sowie Erhaltungskosten, der Verbrennermotoren, der Abgase sowie der Platzprobleme beim Abstellen. Den Großteil der Zeit wird das Auto nämlich gar nicht gefahren.

Die E-Scooter sind eine bessere Alternative für das Auto, wenn sie stärker in den Randbezirken eingesetzt werden. Das deutsche Umweltbundesamt zählt 2021 die E-Scooter nicht zu den nachhaltigen Verkehrsmitteln. Das größte Problem sind demnach die privaten Pkw in den Städten. Die Fahrten mit diesen werden durch die steigende Nutzung von E-Scootern nämlich nicht weniger. Durch die schlechtere Öffi-Dichte in den äußeren Gebieten der Städte könnten aber genau hier die E-Scooter punkten, indem sie die zurückgelegte Weglänge über die Zwei-Kilometer-Grenze ausdehnen. Denn bis zu dieser Länge verwenden Menschen ohnehin eher das Fahrrad oder gehen zu Fuß. Beide Fortbewegungsarten sind jedenfalls nachhaltiger, als den E-Scooter zu benutzen.

Das Warten auf den Bus in den Randbezirken könnten E-Scooter obsolet machen. Quelle: unsplash/Erik McLean

Die wahren Profite hinter dem Leihgeschäft

Leihanbieter*innen haben einen großen gemeinsamen Nenner: Sie kommunizieren stark und konsequent, dass sie ein nachhaltiges Geschäftsmodell forcieren. Webseiten von Lime, Tier und Co. sind gespickt mit Buzzwords wie „Green“, „Sustainability“, „Community“ oder „Innovation“. Längst reicht es für Firmen nicht mehr, nur ein Produkt anzubieten. Produkte müssen durch die harten Wettbewerbsbedingungen mit Qualitäten weit jenseits der Produkteigenschaften aufwarten. Im Falle von E-Scooter-Verleiher*innen sind das Begriffe, mit denen sich jene Leute gerne identifizieren, die auch eher bereit sind, auf ein Auto zu verzichten oder Elektrogeräte fahren, um Emissionen zu vermeiden.

Allein in Deutschland lag der Umsatz vom Verleihgeschäft von E-Scootern bei 167 Millionen Euro im Jahr 2022. Somit liegt die Autonation noch vor Frankreich und hinter den USA weltweit auf Platz 2. Hinter dem Markt steckt dementsprechend eine große Lobby, die direkt in der lokalen Politik andocken möchte. Dort kann sie mit Entscheidungsträger*innen gemeinsam neue Gesetze entwickeln, welche die Nutzung von E-Scootern begünstigen. Denn zumeist haben Städte eine spezielle Autonomie in der Gesetzgebung, sodass sie nationale Gesetze innerhalb des eigenen Stadtgebiets auch adaptieren können. Wenn Städte wie Oslo und Paris nun restriktive Scooter-Gesetze erlassen, verschmälert das den Markt und folglich die Umsätze der einzelnen Anbieter*innen. Und das liegt nicht im Interesse der Profiteur*innen.


Interessensvertretung im großen Maßstab

Ein eigenes Onlinemagazin zeigt die Interessen, Überlegungen und Strategien der Verleiher*innen auf. Die ZAG Group erfreut sich außerhalb ihrer Branche ironischerweise keiner Bekanntheit, zumindest nicht in der breiten Öffentlichkeit. Dabei darf man die ZAG Group durchaus kennen: Sie setzt sich immerhin aus den führenden Unternehmer*innen der E-Mobility-Branche abseits der Autoindustrie zusammen und vertritt deren Interessen. Und diese Interessen sind so stark, dass beispielsweise die Autovermietung Hertz von Lime angeklagt wurde, weil sie mutmaßlich unrechtmäßig Ingenieur*innen abgeworben hat.

Die ZAG Group unterhält auch das ZAG daily, ein Onlinemagazin mit Fokus auf E-Scooter- und Fahrrad-Fortbewegung. Das Ziel ist, nachhaltige Mobilität in den Städten weltweit zu etablieren. Dafür werden CEOs, Influencer*innen und andere Akteur*innen der Branche eingeladen, über ihre Meinungen zu schreiben oder im Rahmen von Interviews Einblicke in die Beweggründe und Absichten der Entscheidungsträger*innen zu gewähren.

Verantwortlich für das ZAGdaily sind Mark Cutler und Richard Woods sowie eine Handvoll Redakteur*innen. Beworben wird die E-Mobilität mit den Schlagworten der Nachhaltigkeit, CO2-Neutralität und als verträgliche Alternative zum lauten, stinkenden und Stau verursachenden motorisierten Individualverkehr. Außer Acht gelassen werden die negativen Aspekte der E-Scooter. Sei es das gefährliche Fahrverhalten und die hohe Geschwindigkeit, achtlos abgestellte und behindernde E-Scooter und die Zunahme an Unfällen, besonders auch in der Nacht und unter Alkoholeinfluss.


Menschenrecht und Revolution

Mit dem Onlineauftritt soll eine Grundlage geschaffen werden, um die selbstproklamierte Notwendigkeit einer Veränderung des städtischen Lebens auch für politische Entscheidungsträger*innen sichtbar zu machen. Das ZAGdaily verfolgt somit eine klare Agenda. Es hat nicht nur objektive Informationsverbreitung im Sinn, sondern besonders die Beeinflussung des öffentlichen Diskurses zugunsten der Firmen, welche die nachhaltige Verkehrswende mittragen möchten. Es zeigt, wie wichtig der urbane Markt für die Unternehmen ist, die auf E-Scooter und deren Verleih setzen.

Da wird auch davon gesprochen, dass „Mobilität ein Menschenrecht ist“ (Horace Dediu, Analyst, Influencer und Gründer verschiedener Moblitätsfirmen), oder dass die „sichere und legale Nutzung von E-Scootern das Potenzial hat, den Arbeitsweg zu revolutionieren“ (Adam Norris, Gründer von Pure Electric). Alles ist möglich und E-Scooter scheinen zum Heilsbringer der Gegenwart zu avancieren.


Die umkämpfte Stadt

Wie stark dürfen und sollen Privatunternehmen in die öffentlichen Geschicke eingreifen? Voi, einer der größten Anbieter von E-Scootern in Europa, sieht sich klar als Mitgestalter im öffentlichen Raum. Jack Samler, Regional General Manager für Großbritannien und Frankreich, beteuert nach der Gesetzesnovelle auf ZAGdaily, dass man früher oder später wieder zurück auf Paris’ Straßen sein wird. Man müsse gemeinsam mit der öffentlichen Verwaltung an Wegen arbeiten, wie ein individueller Verkehr möglich ist. Das soll mit der Zusammenarbeit von Industrie und Politik geschehen.

Der öffentliche Raum muss von der und für die Bevölkerung gestaltet werden. Moderne Stadtkonzepte greifen in die E-Scooter-Thematik ein, genauso wie umgekehrt E-Scooter der Übergang von Privatwirtschaft in den öffentlichen Raum sind. Faustpfand ist die individuelle Fortbewegung unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit. Unbewusst wird hier ausverhandelt, welche Formen der Mobilität wir uns innerhalb der Stadt zugestehen. Mit den Scootern wird die 15-Minuten-Stadt greifbarer denn je. Die Integration der E-Leihgeräte in die Stadtmobilität will aber sorgfältig geplant sein. Federführend sollte dabei die Stadtverwaltung sein, die nicht von Shareholder*innen oder Umsätzen getrieben ist, sondern als Vertreterin der Bürger fungiert.


In welche Richtung fahren wir?

In der Realität reagieren Städte träge auf die Großzahl an Leih-E-Scootern. Firmen boten ihre Geräte an, ohne dass Gesetze, gebaute Infrastruktur und Beteiligte einbezogen wurden. Doch eigentlich sollten Städte zuerst Bedarfe eruieren und dabei alle möglichen Fortbewegungsmittel berücksichtigen, mit dem Fokus auf treibstoff- und emissionsarmer, sicherer und inklusiver Mobilität. Erst im zweiten Schritt wird anhand von transparenten Ausschreibungen eine konkrete Integration im realen Stadtgefüge stattfinden, mit einem öffentlich begleiteten Evaluierungsprogramm.

Denn wenn man den Evaluierungen Glauben schenkt, sind E-Scooter und Co keinesfalls das Allheilmittel unseres urbanen Mobilitätsproblems. Sie sind nur ein kleiner Puzzlestein auf dem Weg zu einer klimagerechten und tatsächlich nachhaltigen Fortbewegung, die besonders auch unmotorisierte Fahrräder und den öffentlichen Nah- sowie Fernverkehr mit einschließt. Denn aktuell ersetzen E-Scooterfahrten zu einem Großteil nur Wege mit den Rad oder zu Fuß. Das Problem mit der gleichbleibenden Zahl der Autofahrten lösen sie keineswegs.

Mit dem Fokus auf Fußgänger*innen werden automatisch qualitativ hochwertigere Stadträume für alle Personen geplant, mit breiteren Wegen und vermindertem Verkehrsaufkommen. Die Reduktion von motorisiertem Verkehr bedeutet auch weniger Lärm sowie weniger Stress für die Anwohner*innen. Prinzipiell verändert bereits der Fokus der Straßennutzung die Gewichtung der einzelnen Fortbewegungsmittel. So können neue Straßen von Vornherein als Wohnstraßen oder Fahr- und Fußgänger*innenwege angelegt werden, in denen Autos nicht das wortwörtliche Maß der Dinge sind.


Städtische Gesellschaft und urbane Mobilität

Der Kampf und das Recht auf einen Leih-E-Scooter sind nichts weniger als das Ausverhandeln städtischer Mobilität unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit. Die wahren Spielemacher*innen sind aber private Firmen, deren Gewinnmaximierung oberste Priorität hat, anstelle der nachhaltigen und menschenzentrierten Stadt. Es ist notwendig, den handelnden Akteur*innen kritisch auf die Finger zu schauen – und nicht denjenigen zu glauben, die am lautesten schreien. Das Ziel nachhaltiger Fortbewegung ist nämlich nicht Profitmaximierung oder wirtschaftliche Rendite, sondern Wohlbefinden und Komfort in den Städten zu fördern.

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