Ein internationales dreijähriges Projekt untersuchte die Auswirkungen neuer Rauschmittel auf den städtischen öffentlichen Raum in Europa zwischen 1600 und 1850. Die Online-Ausstellung „Intoxicating Spaces“ konzentriert sich auf Amsterdam, Hamburg, London und Stockholm. Sie zeigt, wie Rauschmittel in die europäischen Verhaltensweisen integriert wurden, aber auch, wie sie produziert, gehandelt und konsumiert wurden. Lesen Sie hier mehr über die Ausstellung!
Das Forschungsprojekt Intoxicating Spaces
Von 2019 bis 2022 erforschten Expert*innen aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und Schweden die Auswirkungen neuer Rauschmittel auf den städtischen öffentlichen Raum zwischen 1600 und 1850. Der Begriff „neue Rauschmittel“ bezieht sich auf Substanzen, die den Europäern vor 1600 nicht bekannt waren. Doch um 1850 waren sie auf dem ganzen Kontinent zu Grundnahrungsmitteln geworden. Tabak und Zucker sind die besten Beispiele dafür. Sie kamen durch atlantische Importe ab den 1620er Jahren nach Europa. Kaffee kam in den 1650er Jahren aus Arabien auf den Kontinent und wurde in den 1720er Jahren massenhaft aus dem Atlantik und Asien eingeführt. Auch Tee zählt zu den neuen Rauschmitteln. Er wurde in den 1640er Jahren in Nordeuropa eingeführt, ähnlich wie Kakao.
Opium gehörte in diesen Jahrhunderten ebenso wie andere Drogen zu den neuen Rauschmitteln. Es kam aus der Levante und später aus Asien. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Opium in Europa eine alltägliche Ware, die im öffentlichen Raum und in der Gesellschaft präsent war. Eine Online-Ausstellung zeigt die Ergebnisse der Forschung. Zusätzliche Veranstaltungen wie Online-Seminare mit dem Titel „What’s your poison“ (Was ist dein Gift), Online-Konferenzen zu vergleichenden Perspektiven und nationale Ausstellungen ergänzen das Programm.
Intoxicating Spaces ist eine Zusammenarbeit zwischen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg in Deutschland; der University of Sheffield im Vereinigten Königreich; der Universität Stockholm in Schweden; und der Universität Utrecht in den Niederlanden. Das Projekt wird von HERA im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprogramms „Public Spaces: Kultur und Integration in Europa“ und vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.
Die vier Fallstudien
Die Forschenden von Intoxicating Spaces untersuchten den Einfluss neuer Rauschmittel auf vier städtische Siedlungen zwischen ca. 1600 und ca. 1850: Amsterdam, Hamburg, London und Stockholm waren allesamt schnell wachsende Hafenstädte, die die neuen Rauschmittel und die damit verbundenen Praktiken aufnahmen. Sie dienten auch als Verteilungspunkte für das regionale und nationale Hinterland ihrer Länder. Gemeinsam waren diese vier Länder von zentraler Bedeutung für die Bildung einer Handelszone an der Nord- und Ostsee, die auf den Atlantik und Asien ausgerichtet war.
Die städtischen Räume erlebten in diesen Jahrhunderten einen drastischen Wandel. Sie wurden durch neue Rauschmittel stark beeinflusst. Die Forschenden untersuchten, wie die Substanzen in den Metropolen zirkulierten. Zudem ging es um die Bedeutung der Rauschmittel für die Sklaverei bedeutete und andere Formen kolonialer Gewalt, die dem internationalen Handel mit Rauschmitteln zugrunde lagen.
Auch der öffentliche Raum veränderte sich durch den neuen Handel. Es entstanden bauliche und institutionelle Einrichtungen für den Verkauf und die Geselligkeit, wie Bierstuben, Bordelle, Kaffeehäuser und Schokoladenhäuser. Docks, Messen, Märkte, Molly-Häuser, Opiumhöhlen, Apotheken, Vergnügungsgärten, Tavernen, Theater und sogar Königshöfe erfuhren eine Umgestaltung: Sie wurden zu Orten, an denen neue Rauschmittel ausgetauscht und konsumiert wurden.
Theorie der sozialen Praxis
Das zentrale Forschungsinteresse von Intoxicating Spaces galt der Theorie der sozialen Praxis oder Praxeologie. Diese Tradition der sozialwissenschaftlichen Analyse zielt darauf ab, vergangenes und gegenwärtiges menschliches Verhalten zu verstehen. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf den Motiven oder gesellschaftlichen Strukturen, sondern auf Handlungen. Dies meint die gemeinsame Art und Weise, Dinge zu sagen und zu tun. Diese Praktiken oder routinierten Verhaltensweisen änderten sich mit der Einführung neuer Rauschmittel. Dazu gehören der Kauf von Zucker oder die gemeinsame Nutzung einer Pfeife in einer Seemannskneipe.
Jede Praxis besteht aus Elementen wie Materialien, Kompetenzen und Bedeutungen. Dies half den Forschenden, die sich verändernden Auswirkungen der neuen Rauschmittel auf den öffentlichen Raum in Europa zu analysieren und zu vermitteln. Sie entwickelten eine Typologie gemeinsamer Elemente. Diese ermöglicht einen Vergleich der Fallstudienstädte über Zeit und Raum hinweg. Die Online-Ausstellung enthält viele Beispiele für die sich verändernden Elemente des öffentlichen Raums.
Workshops und nationalen Ausstellungen
Das Forschungsprojekt führte zu den folgenden Workshops und nationalen Ausstellungen, die online und vor Ort besucht werden können:
- Amsterdam Central Station: „Welten von Opiaten“
- „Drogenbildung und Geschichte im Klassenzimmer“
- „Humor und die Förderung und Kontrolle von Rauschmitteln in Vergangenheit und Gegenwart“
- Universität Stockholm: „Öffentliche Diskussionen über Kaffeebohnen“ und „Rauschmittel und die globale Wirtschaft“
Das Verständnis dieser Prozesse bietet eine wichtige historische Perspektive für dringende aktuelle Fragen im Zusammenhang mit Drogenkonsum und -missbrauch. In ähnlicher Weise werden Sucht, Migration, Ein- und Ausgrenzung im öffentlichen Raum und der Stellenwert von Rauschmitteln im Alltagsleben diskutiert.
Neue Rauschmittel, Kolonialismus und Sklaverei
Während Europa die neuen Rauschmittel als sehr genussvoll erlebte, war die Herkunft der Substanzen alles andere als das: Intoxicating Spaces untersucht auch, wie die Etablierung von Sklavenwirtschaften jenseits des Atlantiks den Handel mit Rauschmitteln ermöglichte. Die Forschenden beleuchten die Gewalt und Unmenschlichkeit der Kolonien, der Plantagen und des Lebens unter Deck.
In der Zeit von 1600 bis 1850 wurden etwa 12,5 Millionen Schwarzafrikaner*innen von den dänischen, niederländischen, englischen, französischen, portugiesischen und spanischen Reichen zwangsverfrachtet. Die Sklav*innen mussten Reis, Baumwolle, Kakao, Kaffee, Tabak und Zucker mit seinen Derivaten Melasse und Rum produzieren. In der „Neuen Welt“ erlaubte das tropische Klima den massenhaften Anbau von Pflanzen für neue Rauschmittel. Doch freie europäische Einwanderer*innen, Dienstbot*innen, Sträflinge und amerikanische Ureinwohner*innen allein konnten den intensiven Arbeitsbedarf der Plantagen nicht decken. Die Antwort darauf waren Zwangsarbeitende aus Afrika. Dabei arbeitete etwa ein Drittel der Sklav*innen in der Produktion und dem Transport der neuen Rauschmittel.
Die Ausstellung stellt klar, dass „die europäischen Konsumenten, die den Rauschmitteln hinterherjagten, für die Initiierung und Aufrechterhaltung der fast unvorstellbaren Grausamkeiten der Plantagensklaverei verantwortlich waren: vom Trauma der Entführung und Versklavung in Afrika über die Schrecken der Mittelpassage bis hin zu den täglichen Schrecken der Unterwerfung auf den Ländereien, die lange Arbeitszeiten und Knochenarbeit unter tropischen Bedingungen mit militaristischer Disziplin und Bestrafungen wie Auspeitschen, Brandmarken, Kastration, Ohrenkürzen und Amputation verbanden.“