26.01.2023

Gesellschaft

Marienplatz München: Schlafplatz statt Armlehne

Blick in einen röhrenartigen Gang, dessen Wände mit orangenen Paneelen verkleidet sind, er biegt nach rechts ab. Die Gänge des U-Bahnhofs am Münchner Marienplatz leuchten in markantem Orange. Der S-Bahnhof, an dem mehrere Aktivist*innen die Armlehnen von Sitzbänken abschraubten, liegt darüber. Foto: Nebojsa Pesic via Unsplash
Die Gänge des U-Bahnhofs am Münchner Marienplatz leuchten in markantem Orange. Der S-Bahnhof, an dem mehrere Aktivist*innen die Armlehnen von Sitzbänken abschraubten, liegt darüber. Foto: Nebojsa Pesic via Unsplash

Am S-Bahnhof Marienplatz München, den die Deutsche Bahn gegenwärtig modernisiert, sind bereits seit Längerem neue Sitzbänke für Wartende zu finden. Die Bänke – genauer gesagt die Armlehnen auf ihnen – nahm nun eine Gruppe von Aktivist*innen ins Visier. Diese wollen mit abgeschraubten Armlehnen auf defensive Architektur und den Umgang mit Obdachlosigkeit aufmerksam machen.

Am Dienstag, den 17. Januar 2023, hat eine Gruppe von Aktivist*innen am S-Bahnhof Marienplatz in München Armlehnen an mehreren Wartebänken abgeschraubt. Aus den in einzelne Plätze unterteilten Bänken wurden so längere Sitzflächen, die sich auch zum Liegen eignen. Mit der Aktion wollen die Aktivist*innen auf den Umgang mit Obdachlosigkeit aufmerksam machen. Über die Aktion berichteten Süddeutsche Zeitung, Merkur und Abendzeitung übereinstimmend.


Selbst handeln statt warten

Die Medienhäuser zitieren in ihren Berichten aus einer wohl anonymen Mitteilung der Gruppe. Das Motto der Aktivist*innen: „Wir lassen uns nicht verdrängen“. Einer Partei oder Organisation ordneten diese sich selbst nicht zu; sie hätten sich spontan zusammengeschlossen. Auf 23 Bänken am S-Bahnhof Marienplatz München entstanden Schlafplätze. Einzelne Armlehnen blieben für Menschen, die diese benötigen, angeschraubt.

Die Armlehnen hätten die Aktivist*innen entfernt, „um auf die Verdrängung von obdachlosen Menschen aufmerksam zu machen“, zitieren AZ sowie Merkur aus dem Statement. Sie hätten beschlossen selbst zu handeln, statt auf eine Lösung der Probleme durch Parteien zu warten.


„Gezielt marginalisierte Gruppen verbannen“

Wie der Berichterstattung zu entnehmen ist, nahmen die Aktivist*innen die Armlehnen am Marienplatz wohl als Beispiele für „defensive Architektur“ wahr. Defensive oder feindliche Architektur, hostile design, Anti-Obdachlosen-Architektur – das meint bauliche Maßnahmen, die zum Beispiel im öffentlichen Raum oder öffentlichen Gebäuden bestimmte Handlungen unterbinden oder Personengruppen, die die Anbringenden als „unerwünscht“ wahrnehmen, fernhalten sollen. Elemente wie Pflastersteine unter Brücken, Zacken auf Flächen oder Armlehnen auf Bänken sollen etwa verhindern, dass obdachlose Menschen sich dort länger aufhalten können. Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2022 landete der Begriff defensive Architektur auf dem dritten Platz: Dabei kritisierte die Jury „die irreführende euphemistische Bezeichnung einer menschenverachtenden Bauweise, die gezielt marginalisierte Gruppen aus dem öffentlichen Raum verbannen möchte.“

Eine Betonbank mit mehreren Armlehnen aus Metall, die die Sitzflächer unterteilen. Armlehnen an Bänken, wie hier vor dem Westbahnhof in Wien, können beim Aufstehen unterstützen – oder verhindern, dass man sich auf Bänke legt. Foto: Herzi Pinki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Armlehnen an Bänken, wie hier vor dem Westbahnhof in Wien, können beim Aufstehen unterstützen – oder verhindern, dass man sich hinlegt. Foto: Herzi Pinki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Armlehnen sollen wieder angebracht werden

Die Deutsche Bahn modernisiert in München aktuell fünf unterirdische S-Bahnhöfe. Der Marienplatz ist ebenfalls einer davon. Dort gehörten zu den Maßnahmen neben neuen Verkleidungen von Säulen, Wänden und Decke auch die neue Möblierung. Im Februar 2020 berichtete die Abendzeitung bereits über Kritik an den neuen Bänken: Obdachlose könnten nicht auf den Bänken schlafen und für manche Menschen könnten die abgetrennten Sitzbereiche zu schmal sein. Aus dem Bericht geht nicht hervorgeht, wer die Kritik äußerte. Die Deutsche Bahn habe die Vorwürfe jedoch zurückgewiesen.

Auf Anfrage der G+L erklärte eine Sprecherin der Deutschen Bahn, dass die S-Bahnhöfe modernisiert würden, um allen einen angenehmen Aufenthalt zu ermöglichen. Man wolle Reisenden und Bahnhofsbesucher*innen attraktive Bahnhöfe bieten – „defensive Architektur oder exkludierende Strukturen passen nicht zu diesem Anspruch.“ Zu ihren Wartebänken führt die Deutsche Bahn an, dass man auf diesen gut sitzen können solle. Armlehnen ermöglichten, mit „angenehmem Abstand“ zu Fremden Platz zu nehmen, und seien Standard für Wartemöbel, so auch an vergleichbaren Orten wie Flughäfen. Personen mit Mobilitätseinschränkungen helfen sie beim Aufstehen oder Hinsetzen.

Schließlich verweist die Sprecherin darauf, dass die Obdachlosenhilfe der Deutschen Bahn ein wichtiges Anliegen sei: „So engagiert sich die von ihr finanzierte Deutsche Bahn Stiftung gemeinsam mit ihrem langjährigen Partner, der Bahnhofsmission, für Menschen in schwierigen Lebenslagen und hilft Menschen ohne festen Wohnsitz.“ Der SZ zufolge äußerte ein Sprecher der Deutschen Bahn zudem, dass man Anzeige wegen Sachbeschädigung erstatten werde. Die Armlehnen an den Bänken am Marienplatz München sollen wieder angebracht werden.


Stadtratsantrag gegen menschenfeindliche Architektur

In ihrem Statement sollen die Aktivist*innen auf eine Broschüre des Stadtmobiliar-Herstellers Metdra verwiesen haben. Der Hersteller schreibe in dieser: „Die optionalen Armlehnen ermöglichen ein leichtes Aufstehen und verhindern gleichzeitig den Missbrauch zum Liegen.“ Metdra gibt auf der eigenen Webseite an, Bahnsteigmobiliar für die Deutsche Bahn zu liefern. In einer nicht datierten Broschüre von Metdra zu „Mobiliar für den ÖPNV und die Deutsche Bahn AG“ sind dem obigen Zitat gleichende Aussagen – dass Armlehnen eine „unerwünschte Nutzung als Liegeplatz“ verhinderten – unter anderem in der Beschreibung zweier Bankmodelle für die Deutsche Bahn zu finden. Ob die Sitzbänke, von denen die Aktivist*innen am Marienplatz die Armlehnen abschraubten, ebenfalls von Metdra stammen, konnte nicht recherchiert werden. Auf eine Anfrage an den Hersteller erhielt G+L bislang keine Antwort.

Einen Tag nach der Aktion wandte sich die Stadtratsfraktion der Parteien Die Linke und Die Partei mit einem Antrag an den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter. Die Anfrage initiierte Stadträtin Marie Burneleit, die für Die Partei im Stadtrat sitzt. Unter dem Betreff „Defensive Architektur verbieten – Keine menschenfeindliche Architektur in München“ fordert die Fraktion die Stadtverwaltung auf, umgesetzte oder geplante defensive Architektur aufzulisten. Zudem fragen sie nach Vorschlägen, wie diese entfernt oder menschenfreundlicher gestaltet und zukünftig im Stadtgebiet verboten werden könnte. Als Beispiele für defensive Architektur in München nennen sie unter anderem Rundbänke an Bahnhöfen, die Armlehnen unterteilen.


Nicht die Menschen sind das Problem

Die Aktion am Marienplatz München soll den Aktivist*innen zufolge über die Sitzbänke dort hinausweisen: „Bei unserer Aktion geht es nicht nur um die einzelnen Bänke. Es braucht ein Umdenken zur Frage, wie wir als Gesellschaft mit Obdachlosigkeit umgehen wollen. Wir denken, dass nicht die Menschen, welche durch diese Architektur verdrängt werden sollen, das Problem sind. Es sind die Zustände, in denen sie leben müssen, die falsch sind“, zitieren die Medienberichte aus dem Statement der Gruppe.

Was tut sich sonst noch so in München? Die Büros MLA+ und Lohrengel Landschaft gewannen im Herbst 2022 den städtebaulichen sowie landschaftsplanerischen Wettbewerb zu einem neuen Quartier. Lesen Sie hier mehr darüber, was geplant ist für den Münchner Dreilingsweg.

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