Sie waren als kurzfristige Lösung zu Beginn der Corona-Pandemie gedacht, nun sollen sie dauerhaft bleiben – die Pop-up-Radwege in Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg und in München. Welche Vor- und Nachteile bringen die Fahrradstreifen? Und wie kann städtischer Raum fahrradfreundlicher werden? Wir haben es untersucht.
Corona sorgt für mehr Radler*innen – und Pop-up-Radwege
Auf Deutschlands Straßen tobt ein Territorialkrieg: Während Radfahrer*innen in jüngster Zeit urbane Raumgewinne in Form von Pop-up-Radwegen verzeichnen, verschanzen sich Autofahrer*innen im befestigten Straßengraben. Pop-up-Radwege, das sind temporär eingerichtete Radwege, um einen kurzfristig höheren Bedarf an Fahrradinfrastruktur zu bedienen. Dabei werden ehemalige Kfz-Spuren durch gelbe Fahrbahnmarkierungen oder Leitbaken zum Radweg.
Während der Covid-19-Pandemie waren Pop-up-Radwege die Reaktion auf zweierlei Dinge. Zum einen sollte Radfahrer*innen durch die breiteren Fahrradstreifen erleichtert werden, zwischenmenschliche Mindestabstände einzuhalten. Zum anderen stieg die Zahl der Radfahrenden in der Pandemie rapide an. Allein durch diese Tatsache bedingt, war schon mehr Platz fürs Zweirad notwendig.
Nach einer repräsentativen Umfrage des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur haben im Juli 2020 25 Prozent der Deutschen angegeben, häufiger Rad zu fahren, als im Vorjahreszeitraum. Gleichzeitig ist der öffentliche Personennahverkehr der größte Krisenverlierer und über 30 Prozent der befragten Personen gaben an, den ÖPNV weniger zu nutzen, als im Jahr zuvor.
Für das Zweirad jedenfalls scheint die Corona-Pandemie ein Katalysator bester Güte zu sein. Was sich seit Jahren abzeichnet, nämlich dass die Deutschen immer mehr mit dem Rad fahren, hat seit Mitte 2020 eine grandiose Beschleunigung erfahren. So grandios, dass Fahrradhersteller*innen mit der Produktion nicht mehr hinterherkommen und Fahrradhändler*innen schulterzuckend vor leeren Verkaufsflächen stehen.
Pop-Up-Radwege sorgen für Ärger
Und das hat Auswirkungen auf die zeitgenössisch automobilzentrierte Stadt. Das Verhältnis zwischen Auto- und Radfahrenden war zur Rushhour in der Innenstadt schon immer spannungsgeladen. Pop-up-Radwege und damit das Einbüßen einer ganzen Spur an neuralgischen Punkten in der Innenstadt dürften vielen Autofahrer*innen als bittere Sahnehaube im Streit um immer enger werdende Verkehrsflächen vorkommen.
Doch nicht nur die finden sich auf der sprichwörtlichen Palme ein. Geschäftstreibende zum Beispiel müssen durch Pop-up-Radwege unter Umständen auf die gesamten Parkflächen vor ihrem Laden und damit auf Teile ihres Umsatzes verzichten.
Die Radler*innen hingegen freut’s. Mit mehr Abstand zum motorisierten Verkehr fühlen sie sich sicherer und mancherorts schafft ein Pop-up-Radweg auch mehr Platz für die Fußgänger*innen auf dem Gehweg. Der Erfolg scheint so groß, dass sich Städte wie München und Berlin dafür entschieden, einige der Pop-up-Radwege sowohl rechtlich als auch baulich zum dauerhaften Radweg zu machen.
Ob man ihnen aber nun gewogen ist oder nicht: Pop-up-Radwege können, wenn man einen großen Ausschnitt des Ganzen betrachtet, vielleicht ein bisschen in die richtige Richtung stupsen, aber eine gewünschte Verkehrswende braucht mehr Ideen. Schon ohne Pop-up-Radwege kommt der Autoverkehr zur Stoßzeit in deutschen Großstädten fast zum Erliegen. Da hilft es kaum, jetzt auch noch weniger Spuren befahren zu dürfen.
Deutsche Fahrradinfrastruktur ist, so scheint es zumindest, immer nur aufgesetzt, niemals integraler Bestandteil der Verkehrsplanung gewesen und wurde erst dann behandelt, wenn die sonstige Infrastruktur schon fertig war. Zusätzlich gewichten verschiedene Kommunen die Notwendigkeit von Fahrradwegen unterschiedlich, und so endet mancher Fahrradweg an der Gemeindegrenze schon mal im Nichts.
Das Fahrrad: in hohem Maße gefährlich
„Nüchtern betrachtet, sind Fahrräder in hohem Maße unpraktisch und gefährlich“. Dies gab Anfang 2020 Dirk Spaniel, verkehrspolitischer Sprecher der AfD, im Bundestag zum Besten. Auch wenn er das mit der Gefährlichkeit so nicht meinte, denn er bezog sich auf die von den Fahrradfahrer*innen verursachte Gefahr, hat er unfreiwillig Recht: Das Fahrrad ist gefährlich. Doch dem Fahrrad und seinen Fahrer*innen kann man die Schuld daran kaum zuschieben.
Auf dem Rad sterben mehr Menschen im Straßenverkehr, als mit jedem anderen Verkehrsmittel, einschließlich der eigenen Füße. Zwar sinkt die Zahl der Verkehrstoten in Deutschland insgesamt seit Jahren, beim Radfahren jedoch zeigt der Trend nach oben. Dass das unter anderem mit der gestiegenen Anzahl von Radfahrer*innen zu tun hat, ist klar, aber eben auch nicht akzeptabel und außerdem deutet es auf Planungsmängel hin.
Ein Beispiel ist das Rechtsabbiegen: Seit jeher erlauben deutsche Ampelschaltungen längsverkehrenden Fahrrädern und Autos mit Rechtsabbiegewunsch das gleichzeitige Einfahren in eine Kreuzung. Die Folge dieser absurden Verkehrsführung: Autofahrer*innen verrenken sich die Hälse, um hinter den Fahrzeugsäulen heranrasende Zweiräder zu erkennen und Radler*innen geraten unter Auto- und Lastwagenreifen. Was täglich tausendfach Stress bei Autofahrenden verursacht, ist in der Statistik als Vorfahrts- und Abbiegefehler für mehr als die Hälfte aller radelnden Verkehrstoten verantwortlich.
Kopenhagen zeigt gelungenes Fahrradkonzept
Um zu sehen, wie eine gelungene urbane Fahrradintegration aussehen kann, lohnt sich der Blick nach Kopenhagen. Gefährliche Rechtsabbiegesituationen vermeiden die Dän*innen durch eine simple Maßnahme: Fahrräder und Autos werden in getrennten Ampelzyklen durch Kreuzungen geführt. Auf Kopenhagens Hauptverkehrsstraßen zieht sich teilweise eine grüne Ampelwelle bis zu zwei Kilometer lang durch die Stadt. Ihre Geschwindigkeit ist mit 25 Stundenkilometern auf Radfahrer*innen eingestellt und ja: Auch Autos müssen sich dieser Geschwindigkeit unterordnen.
Falls Ihnen das quälend langsam vorkommt, fahren Sie mal zur Hauptverkehrszeit in einer deutschen Großstadt herum. Sie mögen zwischen den vielen roten Ampeln hier und da in den Genuss von etwas Geschwindigkeit kommen, doch die meiste Zeit werden Sie stehen. Das Deutsche Verkehrsforum hat so auch in einer Ende 2019 herausgegebenen Studie eine Durchschnittsgeschwindigkeit auf Hauptverkehrsstraßen in zehn deutschen Großstädten werktags zwischen 16 und 17 Uhr von etwa 22 Stundenkilometern festgestellt.
Kopenhagen macht es für seine Bürger*innen auch mit vielen weiteren Details einfach, aufs Rad zu steigen. Stadtmobiliar wie angeschrägt montierte Mülleimer, die die Entsorgung aus der Fahrt erleichtern oder Fahrradgeländer an Kreuzungen, an denen man sich festhalten kann und die das schnelle Anfahren erleichtern, sind nur zwei der vielen Beispiele. Die Kopenhagener Bürger*innen fahren infolge der Maßnahmen nicht etwa mit dem Rad, weil sie besonders grün sind, sondern weil es in vielen Fällen die günstigste, schnellste und sogar bequemste Möglichkeit ist, von einem Ort zum anderen zu kommen.
„Was die damals gemacht haben!“
In Deutschland sind wir von solchen Zuständen noch ein gutes Stück entfernt. Der Deutschen liebstes Kind, das Kraftfahrzeug, nimmt schon historisch einen viel zu wichtigen Stellenwert ein, als dass es von heute auf morgen von den Straßen verschwindet. Und es gibt Fälle – das sei unbestritten –, da ist eine Form von Auto einfach notwendig. Aber das private Automobil wird keine lange Zukunft mehr haben können. Und Planer*innen müssen beginnen, alternative Verkehrsinfrastruktur zu kreieren und nicht Radwege „aufzupoppen“.
Man muss kein Physikgenie sein, um zu erkennen, dass es schwerlich effizient sein kann, 80 Kilogramm Mensch in den 1 200 Kilogramm Stahl eines (leichten) Autos zu befördern. Man muss auch kein Geometriegenie sein, um zu erkennen, dass es schwerlich platzsparend sein kann, wenn die fünf Quadratmeter, die ein (kleines) Auto an urbaner Fläche einnimmt und die von sonst niemandem genutzt werden können, durch die Stadt bewegt werden und dort die meiste Zeit des Tages doch nur herumstehen.
Die Verkehrswende muss her, wenn der Mensch seine Städte lebenswert erhalten möchte. Dazu braucht es Konzepte, die weit über Pop-up-Radwege hinausgehen und die planerisch weit tiefer ansetzen. Für den motorisierten Individualverkehr ist heute schon zu wenig Platz in vielen Städten. Er wird vielleicht – für uns kaum vorstellbar – schon einer der nächsten Generationen von Planer*innen als graues Konzept alter Leute aus der Vergangenheit vorkommen, über dessen Torheit man nur den Kopf schütteln kann: „Was die damals gemacht haben!“.
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