09.02.2022

Porträt

Dieter Kienast – Der Formalist

Der Schweizer Landschaftsarchitekt Dieter Kienast (1945 bis 1998) in seinem Privatgarten in Zürich

Der Schweizer Landschaftsarchitekt Dieter Kienast (1945 bis 1998) in seinem Privatgarten in Zürich


Von einem Lesen-Lernen zu einem Lesbar-Machen

Für viele ist er der Landschaftsarchitekt der 1990er-Jahre: Dieter Kienast (1945 bis 1998). Er prägte die Disziplin wie kaum ein anderer und gründete gemeinsam mit Günther Vogt und Erika Kienast 1995 Kienast Vogt Partner. Nach Kienasts Tod eröffnete Günther Vogt 2000 Vogt Landschaftsarchitekten, ein Büro mit globaler Ausstrahlung. Warum Dieter Kienast den Wildwuchs liebte und was den Schweizer Landschaftsarchitekten auszeichnete — ein Porträt.

Nach dem Ikonoklasmus, der mit der Umweltbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre einherging, prägte Dieter Kienast eine neue Generation von Gestalter*innen, weil er formgeladene Konzepte in die Landschaftsarchitektur zurückbrachte. In den 1990er-Jahren verlieh er der Disziplin ein neues Selbstbewusstsein, denn er war ein anerkannter Partner renommierter Schweizer Architekturbüros und gewann prestigeträchtige Wettbewerbe in Europa.  Aufgrund seines Wirkens wurde am Architekturdepartement der ETH Zürich kurz vor seinem Tod ein Lehrstuhl für Landschaftsarchitektur eingerichtet und er als erster Professor gewählt.

Kienast war ein begnadeter Zeichner und Gestalter und gilt als Meister des feinen Details. Er stammte aus einer Zürcher Gärtnerfamilie und lernte bei dem großen Schweizer Landschaftsarchitekten Fred Eicher (1927 bis 2010), bevor er nach Kassel ging. Dort schloss er, nachhaltig beeinflusst von der Kasseler Schule, 1975 den interdisziplinären Studiengang Architektur-, Stadt-, und Landschaftsplanung an der Kasseler Gesamthochschule als Diplomingenieur für Landschaftsplanung ab. Die „Schönheit des Unkrauts“ entdeckte Kienast in den vom Krieg hinterlassenen Brachen der Stadt. Aus seiner unbedingten Liebe zur spontanen Vegetation und durch die Auseinandersetzung mit den Methoden der Pflanzensoziologie entwickelte er im Laufe seines Lebens eine neue Ästhetik für das Gestalten mit der Natur in der Stadt: Kienast wollte weder ländliche Bilder en miniature in der Stadt nachahmen noch die Stadt mit gärtnerischer Üppigkeit behübschen.

Als mit einer Arbeit zur spontanen Stadtvegetation von Kassel 1978 promovierter Pflanzensoziologe, orientierte sich Kienast an der Wirkungsweise gestalteter Freiräume und entsprechend pragmatisch war sein Verhältnis zur Natürlichkeit und Künstlichkeit dieser Orte, die keine Idyllen sein sollten, sondern Orte sozialer und ästhetischer Erfahrung. Fünf Jahre lang hatte er die spontane Vegetation der Stadt Kassel kartiert und – wie ein Detektiv, der seine Spuren interpretiert – gelernt, warum eine Pflanzenfamilie wann und wo anwesend war. Sein dadurch gewonnenes Verständnis für die Koexistenz von Pflanze, Mensch und Material brachte ihn von einem Lesen-Lernen der Stadt zu einem Lesbar-Machen.

Der Schweizer Landschaftsarchitekt Dieter Kienast (1945 bis 1998) in seinem Privatgarten in Zürich, 1997 (Foto: Thomas Burla)

Dieter Kienast, Vorreiter in Sachen Pflanzenverwendung

Letzteres geschah gemäß seines Strebens nach „Standortgerechtigkeit“ durch eine zeichenhafte und symbolische Pflanzenverwendung, den Einsatz städtischer, armer Materialen wie Beton, Asphalt, und Stahl, und ein Gestalten mit Formen, die der Künstlichkeit der Stadt gerecht wurden. 1997 hielt Kienast über das Gestalten in dem oft knappen städtischen Raum fest: „Wir versuchen zunächst eine Kohärenz von Bedeutung, Form und Material zu erreichen. Elemente und deren Materialität setzen wir zurückhaltend und möglichst präzise ein.“
Die selbstauferlegte Reduktion von Form, Material, und Pflanzenverwendung schöpfte zuerst aus dem Vollen und durfte nicht auf Kosten der Sinnlichkeit gehen. In der Neunten seiner Zehn Thesen zur Landschaftsarchitektur(verfasst 1992, überarbeitet bis 1998) hielt Kienast ein Plädoyer zur Pflanzenverwendung, das heute, in einer Zeit, in der Landschaft und Freiraum täglich auf ihre Ökosystemleistungen hin überprüft werden, noch stärker räsoniert als vor 30 Jahren:

„Es gilt, die Pflanze als städtisches Element wiederzuentdecken und nicht nur als ökologischen und dendrologischen Faktor, als architektonisches Raumelement zu betrachten. Wir sollten lernen, dass es differente Grüntöne gibt, dass Pflanzen unterschiedlich im Wind rauschen, dass nicht nur die Blüte, sondern auch das zu Boden gefallene Laub duftet. Wir sollten den Schatten einbeziehen, die Wirkung des kahlen Geästes im Winter berücksichtigen, die pflanzliche Symbolhaftigkeit aufdecken und ihre Sinnlichkeit erspüren.“ Darauf hat Kienast in allen drei Bürogemeinschaften, in denen er Zeit seines Lebens arbeitete, geachtet (Kienast+Stöckli 1980 bis 1986, Kienast, Stöckli & Koeppel 1987 bis 1994, Kienast Vogt Partner 1995 bis 1999, Kienast † 1998).

Kienast machte Landschaft erlebbar

Sei es im Stadtpark Brühlwiese in Wettingen (1979 bis 1984), im Außenraum der Ecole cantonale de langue française in Bern (1983/84 WB, 1987 bis 1991) oder den Gartenhöfen für Swiss Re (1994 bis 1995, heute Vontobel Holding) und Ernst Basler+Partner (1995 bis 1996) in Zürich, Dieter Kienast begann den Arbeitsprozess immer mit einer stundenlangen Beobachtung der Orte und einer Analyse des Vorhandenen. Im Entwurf und in der Darstellung bedienter er sich typisch postmoderner Verfahren, wie das Einbeziehen lokaler Spuren, klassischer Vorbilder der Gartenarchitektur, schriftlicher Zitate, das Planen mit dem Fragmentarischen nach der Methode der „Transparenten Raumorganisation“ oder das Darstellen und Dokumentieren in Präsentationsplänen mit Techniken der Montage und Collage.

Kienasts gleichzeitiges Streben nach ästhetischer Vollendung ist hingegen dem Geist der Moderne verpflichtet, ebenso sein emanzipatorischer Anspruch an Freiräume. Er wählte Pflanzen und Materialien nach einem Zonierungsprinzip, das der Nutzung der Freiräume folgte, immer getrieben von der Frage „Wie kann ein Mensch das am besten erleben?“ Die großen Erdpyramiden im Wettinger Stadtpark stehen exemplarisch dafür: Zuerst als naturalistisch geformte Spiel- und Schlittelhügel geplant, entsprechen die geometrischen, für Kinder konzipierten Elemente Kienasts rigoroser Formsprache wie auch seiner Utopie, architektonische Gestaltung neu zu erleben. Bepflanzt sind die Pyramiden mit einer Magerwiese, wodurch die Kanten wie auszufransen scheinen.

Dieter Kienast und der Wildwuchs

Das Gestalten mit Kontrasten (hell/dunkel, feucht/trocken, organisch/anorganisch, Masse/Leere) und besonders das Wechselspiel von geometrischen Formen und der sich diesen Formen widersetzenden Natur prägt Kienasts Werk. Immer bracht er dabei die passenden „Naturbilder“ mit einer bestimmten Nutzung zusammen und zeigte gerne auch alle Spielarten der „Natur der Stadt“.

In der Ecole cantonal de langue française rahmt eine Hecke und daneben eine Lindenallee, die sich aus einem Streifen aus Baumgittern und Kunsteinen erhebt, einen asphaltierten Spielplatz. In den Baumgittern und aus den bewusst weit gesetzten Fugen der Kunststeine sprießt das Unkraut. Quer über den Spielplatz laufen Sickerungsschlitze. Wo diese auf die gegenüberliegende Betonmauer stoßen, lässt Kienast je ein Pflanzloch für wilden Wein offen. Dieser breitet sich über der Betonmauer aus, als wäre sie eine Leinwand. Jenseits der Betonmauer eröffnet sich ein Hinterland mit hohem Gras und Blumen, Obstbäumen, einem Gemüsegarten und einem polygonalen Biotop. Erreichen können die Kinder das Hinterland durch Schlitze in der Mauer. Das ist mit Lesbar-Machen der Stadt gemeint: Die Pflanzen- und Materialverwendung löst eine Art Choreographie der Nutzung aus, über erlernte Konventionen, wo man sich frei bewegen kann, und wo nicht.

Dieter Kienast und Joseph Beuys

Der erste der Zehn Thesen zur Landschaftsarchitektur beginnt mit dem legendär gewordenen Satz: „Unsere Arbeit ist die Suche nach einer Natur der Stadt, deren Farbe nicht nur grün, sondern auch grau ist.“ Kienast machte damit klar, dass Landschaftsarchitekt*innen nicht dazu da sind, einfach „Grün“ in die Stadt zu bringen, sondern dass landschaftliches Gestalten die gesamte Fläche der Stadt umfasst, und Landschaftsarchitekt*innen immer auch ein Urbanist*innen sein müssen. Kienasts großes Pflanzen- und systemisches Wissen trug dazu bei, salonfähig zu machen, dass Ökologie und Gestaltung keine Gegensätze sein müssen. Er zertrümmerte auch Vorstellungen darüber, wie ökologisches Gestalten auszusehen habe. Ein Frosch könne schließlich auch in einem rechteckigen Wasserbecken aus Cortenstahl glücklich werden.

Kienast war in seiner Arbeit tief geprägt von der in Kassel geübten Interdisziplinarität aber auch von der Ambivalenz von Ästhetik und Aktion, welche in der Documenta-Stadt, während der 1970er- und 1980er-Jahre omnipräsent war, als namhafte Künstler*innen – allen voran Joseph Beuys – politisches Statement und schöpferische Kreativität in eins setzten. Wie die zeitgenössischen Künstler wählte Kienast als Forscher und Gestalter immer einen induktiven Zugang zur Wirklichkeit.

Wie Kienast aus der „grauen Ästhetik“ herausfand

Vonseiten der Kasseler Schule wurde er wegen seiner formgeladenen Freiräume mitunter als korrumpierter Förmchenspieler diskreditiert. Die Alltagstauglichkeit seiner in den 1990er-Jahren entstandenen Freiräume wurde von seinen Kritikern bestritten, und seine Hinwendung zur Gestaltung von Privatgärten sowie Außenräumen großer Unternehmen brachte ihm den Vorwurf des Eskapismus ein. Doch hat sich Dieter Kienast nie vom emanzipatorischen Gehalt seiner Freiräume abgewandt, sondern mehrere Umdeutungsprozesse vollzogen: Der Forderung nach einem neuen Wohnen entsprach er mit Räumen, die ein neues Sehen ermöglichen sollten. Das Befinden und die Befindlichkeit im Raum fokussierte er auf die Kognition und integrierte die ästhetische Erfahrung in seine Gärten und Anlagen als spezifische Form der Alltagsbewältigung, die jede Freiraumplanung seinem Verständnis nach bieten sollte.

Kienasts Interesse an Wahrnehmungsprozessen spiegelt sich auch in den wechselnden Inszenierungen seines Werks wider. Neben seinen eigenen, erst kunstvoll gezeichneten, dann kombiniert mit Montage und Collage gefertigten Präsentationsplänen prägten die Schwarzweiß-Fotografien Christian Vogts die Rezeption seines Schaffens. Die von Kienast konzipierte Ausstellungsserie „Zwischen Arkadien und Restfläche“ führt vor Augen, dass er der Musealisierung das Experiment vorzog: Dem Publikum boten sich auf beinahe choreographierten Rundgängen immer neue Kontemplationsflächen, offenbar im Bestreben, eine Analogie zu den Wirkweisen der Gartenräume herzustellen. In seinem pluralen Grundverständnis des schöpferischen Prozesses erweist sich der Kienast als Seismograph und osmotischer Kreativer, der die jeweils aktuellen theoretischen Diskurse und medialen Entwicklungen in sein Tun einfließen lässt. Durch diese Haltung fand Kienast aus der „grauen Ästhetik“, die sein Werk zu umfloren drohte, heraus.

Klimawende durch Emotionen

Heute rutschen wir durch die Dringlichkeit der wegen der Klimakatastrophe zu setzenden Maßnahmen in einen neuen Ikonoklasmus und Funktionalismus. Wir brauchen „Grün“ in der Stadt, auf Dächern und Fassaden, mittels neuer Bäume und Grünräume – ein Netz der Natur zur Förderung der ebenso gefährdeten Biodiversität. Kaum jemand spricht über Form – wie das aussehen soll, und welche räumlichen und sozialen Konsequenzen jedes Setzen eines Baumes, jedes Pflanzen eines Busches haben, und dass es dazu Gestaltung braucht. Ein eventuell utopischer Gedanken, dem Kienast viel abgewinnen hätte können ist, dass Emotionalität über das persönliche Erleben gestalteter Natur erzeugt wird, und dass diese einen Menschen mehr zur Annahme eines klimafreundlichen Lebenswandels bewegen kann als alle alarmierenden Datensätze zusammen.

Ausführliches zu Charakter und Bedeutung von Dieter Kienasts Werk finden sie in der 2016 im gta Verlag erschienenen Monografie „Dieter Kienast – Stadt und Landschaft lesbar machen“ von Anette Freytag (Englische Ausgabe 2021: The Landscapes of Dieter Kienast).

Übrigens: Landschaftsarchitekt Udo Weilacher, der mit Dieter Kienast eng zusammenarbeitete, interviewte Kienast für sein erstes Buch „Zwischen Landschaftsarchitektur und Land Art“. Die Publikation ist leider inzwischen vergriffen. Mit Einverständnis von Udo Weilacher dürfen wir das Interview bei G+L nochmal publizieren. In diesem erläutert Dieter Kienast mit eigenen Worten viele Aspekte, die für das bessere Verständnis seiner Haltung sehr hilfreich sein dürften. Viel Spaß beim Lesen – Dieter Kienast in: Zwischen Landschaftsarchitektur und Land Art.

Das Porträt erschien zum ersten Mal in der Januarausgabe in Print. G+L widmete Anfang des Jahres 2022 eine ganze Ausgabe den Landschaftsarchitektur-Ikonen der 90-Jahre.

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